Wissenschaftler überprüft bionische Handprothese
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28.03.2018

Wie Neuroprothesen Ausfälle mittels Technik ausgleichen

Gerade im Zusammenhang schwer therapierbarer neurologischer Erkrankungen kann Medizintechnik völlig neue Behandlungsoptionen eröffnen. Deutschland spielt in Europa eine herausragende Rolle bei der Entwicklung dieser innovativen Ansätze. Weltweit sind allerdings die USA führend.

Die Neuroprothetik hat das Ziel, durch Krankheit oder Verletzung verloren gegangene Funktionen des Nervensystems wie Hören, Sehen, motorische und kognitive Funktionen zumindest teilweise wiederherzustellen. Der weltweite Markt für Neuroprothesen wurde 2016 auf 5,28 Milliarden US-Dollar geschätzt [1]. Für den Zeitraum von 2017 bis 2022 wird mit einer Wachstumsrate von 12,4% gerechnet, die u. a. auf die wachsende Anzahl neurologischer Patienten und immer mehr technische Innovationen zurückgeht. Darüber hinaus wächst die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zu Neuroprothesen kontinuierlich. Die meisten Beiträge kommen aus den USA. Deutschland folgt auf Platz zwei.

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DGBMT im VDE e. V.

Neuroprothetik

Alleine in Deutschland sind mehr als 11 Millionen Erwachsene von Schwerhörigkeit betroffen [2]. Cochlea-Implantate, die bei besonders schweren Fällen der Schwerhörigkeit erfolgreich eingesetzt werden, wurden als erste Neuroprothesen für die Anwendung am Menschen zugelassen. Sie bestehen aus einer externen und internen Einheit. Die externe Einheit umfasst ein Mikrofon, einen Sprachprozessor, eine Batterie für die Stromversorgung und einen Sender zur drahtlosen Übermittlung von Daten an die interne Einheit, welche für die direkte Stimulation des Hörnervs unter Umgehung der geschädigten Strukturen zuständig ist. In der Entwicklung befindliche System-on-Chip Systeme sind komplett implantierbar und dadurch von Außen unsichtbar [3]. Cochlea-Implantate können allerdings nur eingesetzt werden, wenn der Hörnerv noch funktioniert. Ist das nicht der Fall, kommen neuerdings Implantate zum Einsatz, welche direkt den auditorischen Hirnstamm stimulieren [4].

Weit größer ist die Herausforderung, die Sehfunktion wiederherzustellen. Eine in Europa und den USA zugelassene Retinaprothese ist die Argus II der US-Firma Second Sight Medical Products, welche aus einer externen Videoverarbeitungseinheit besteht, die visuelle Informationen von einer am Auge montierten Videokamera in elektrische Signale umwandelt. Die Stimulation noch verbliebener Neuronen der Retina durch die elektrischen Signale über eine zweite implantierte Einheit führt schließlich zur Auslösung visueller Wahrnehmungen im Gehirn. In Deutschland hat die Firma Retina Implant AG aus Reutlingen ein subretinales Netzhautimplantat entwickelt. Ist die Retina zerstört, können diese Systeme nicht eingesetzt werden und gegenwärtig wird nach alternativen Lösungen gesucht, die auf der Stimulation des visuellen Kortex (Sehrinde) beruhen.

Muskellähmungen können als Folge von neurodegenerative Erkrankungen wie der Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder durch einen Schlaganfall sowie durch Verletzungen der Wirbelsäule und des Hirnstamms auftreten. Motorische Neuroprothesen stehen in ihrer Entwicklung noch ganz am Anfang. Abgeleitete und weiterverarbeitete Gehirnaktivität erlaubte in ersten Experimenten zum Beispiel die Steuerung eines Computercursors [5]. In Tierversuchen wurde außerdem gezeigt, dass mittels direkter Stimulation des Rückenmarks das Gehvermögen wiederhergestellt werden kann [6]. Das häufigste klinisch angewandte Verfahren zur Therapie von neurologisch bedingten Bewegungsstörungen ist die Tiefenhirnstimulation [7]. Hierbei werden Elektroden in das Gehirn implantiert, die eine kontinuierliche hochfrequente elektrische Stimulation des umliegenden neuronalen Gewebes ermöglichen. Weitere Beispiele für die Anwendungen der Neurostimulation sind die Behandlung von chronischen Schmerzen [8], Parkinson [9] und Epilepsie [10].

Außer der Neuroprothetik gibt es noch weitere Ansätze, um neurologische Erkrankungen durch Mensch-Technik-Interaktionen zu behandeln. Einem interdisziplinären Forschungsteam aus Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und Medizinern gelang es vor kurzem, neurologische Funktionen bei querschnittsgelähmten Patienten teilweise durch ein Training wiederherzustellen, bei dem virtuelle Realität, taktile Sensoren und ein Exoskelett kombiniert wurden [11].

Bioelektronische Medizin

In den vergangenen Jahren ist das neue Forschungsfeld „Bioelektronische Medizin“ entstanden. Mittels Stimulation des Vagus-Nervs wurden bislang Erfolge bei der Behandlung chronisch-entzündlicher Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis [12] und Morbus Crohn [13] erzielt. In Tierversuchen konnte außerdem demonstriert werden, dass die Modulation des Karotissinusnervs ein neuer Ansatz für die Behandlung von Typ-2-Diabetes sein kann [14]. Das Interesse von Investoren an dieser Technologie ist groß, wie sich am Abschluss einer Finanzierungsrunde über 30 Millionen US-Dollar der Firma SetPoint Medical aus den USA zeigt. Die US-Gesundheitsbehörde FDA hat außerdem eine klinische Studie mit der bioelektronischen Medizin-Plattform von SetPoint Medical zur Behandlung rheumatoider Arthritis genehmigt [15].

Chancen und Hürden

Von der technologischen Seite her betrachtet, steht die hier eingesetzte Medizintechnik vor einer Reihe von Herausforderungen. Für jedwede implantierte Medizintechnik müssen Fremdkörperreaktionen im Körper des Patienten minimiert werden (siehe auch der Beitrag „Die Perspektive der Wissenschaft“) und eine gewisse Langzeitstabilität ist zu gewährleisten. Neben der Verwendung von speziellen Beschichtungsmaterialien könnte zukünftig der Einsatz bioresorbierbarer Materialien sinnvoll sein, wie dies bereits für Drucksensoren im Gehirn von Versuchstieren gezeigt wurde [16]. Weiterhin geht der Trend zukünftig zu „closed-loop“ Systemen, die im Gegensatz zu den verbreiteten „open-loop“ Systemen eine automatische Anpassung der Stimulationen des Nervensystems auf der Basis bestimmter Messparameter erlauben, wie zum Beispiel bei einer Gehirn-Computer-Schnittstelle zur Behandlung der Epilepsie [18]. Warum wird die Mensch-Technik-Interaktion zukünftig eine immer größere Rolle bei der Behandlung von Krankheiten spielen? Im Bereich der neurologischen Erkrankungen lautet die Antwort, dass nicht immer ausreichend wirksame und sichere pharmazeutischen Wirkstoffe oder teilweise auch gar keine pharmazeutischen Wirkstoffe zur Verfügung stehen. Erst kürzlich erklärte die Firma Pfizer, die Forschung zu Medikamenten für die Behandlung von Alzheimer und Parkinson einzustellen [17]. Des Weiteren stellen Neuroimplantate häufig eine vielversprechende Behandlungsoption dar, da neurologischen Krankheitsbildern häufig eine Netzwerkstörung zugrunde liegt, und Implantate – im Gegensatz zu systemischer Behandlung durch Medikamente – eine zielgenaue Therapie in den betroffenen Netzwerken ermöglichen.

Quellen

[1]    MarketsandMarkets Research Private Ltd., „Neuroprosthetics Market by Type, Techniques & Application - 2022“. [Online]. Verfügbar unter: https://www.marketsandmarkets.com/Market-Reports/neuroprosthetic-market-234147399.html. [Zugegriffen: 22-Jan-2018].

[2]    P. von Gablenz, E. Hoffmann, und I. Holube, „Prävalenz von Schwerhörigkeit in Nord- und Süddeutschland“, HNO, Bd. 65, Nr. 8, S. 663–670, Aug. 2017.

[3]    M. Yip, R. Jin, H. H. Nakajima, K. M. Stankovic, und A. P. Chandrakasan, „A Fully-Implantable Cochlear Implant SoC with Piezoelectric Middle-Ear Sensor and Arbitrary Waveform Neural Stimulation“, IEEE J. Solid-State Circuits, Bd. 50, Nr. 1, S. 214–229, Jan. 2015.

[4]    H. Nakatomi, S. Miyawaki, T. Kin, und N. Saito, „Hearing Restoration with Auditory Brainstem Implant“, Neurol. Med. Chir. (Tokyo), Bd. 56, Nr. 10, S. 597–604, Okt. 2016.

[5]    M. R. Williams und R. F. Kirsch, „Case study: Head orientation and neck electromyography for cursor control in persons with high cervical tetraplegia“, J. Rehabil. Res. Dev., Bd. 53, Nr. 4, S. 519–530, 2016.

[6]    B. J. Holinski u. a., „Intraspinal Microstimulation Produces Over-ground Walking in Anesthetized Cats“, J. Neural Eng., Bd. 13, Nr. 5, S. 056016, Okt. 2016.

[7]    I. Straszewski, „Elektroden im Gehirn: Ein Überblick zur Tiefenhirnstimulation“, VDE Health Expertenbeiträge, Bd. 02, Nr. 2017, S. 1–4, Nov-2017.

[8]    S. J. Tepper, A. Rezai, S. Narouze, C. Steiner, P. Mohajer, und M. Ansarinia, „Acute treatment of intractable migraine with sphenopalatine ganglion electrical stimulation“, Headache, Bd. 49, Nr. 7, S. 983–989, Juli 2009.

[9]    G. Deuschl u. a., „A randomized trial of deep-brain stimulation for Parkinson’s disease“, N. Engl. J. Med., Bd. 355, Nr. 9, S. 896–908, Aug. 2006.

[10]    M. J. Morrell und RNS System in Epilepsy Study Group, „Responsive cortical stimulation for the treatment of medically intractable partial epilepsy“, Neurology, Bd. 77, Nr. 13, S. 1295–1304, Sep. 2011.

[11]    A. R. C. Donati u. a., „Long-Term Training with a Brain-Machine Interface-Based Gait Protocol Induces Partial Neurological Recovery in Paraplegic Patients“, Sci. Rep., Bd. 6, Aug. 2016.

[12]    F. A. Koopman u. a., „Vagus nerve stimulation inhibits cytokine production and attenuates disease severity in rheumatoid arthritis“, Proc. Natl. Acad. Sci. U. S. A., Bd. 113, Nr. 29, S. 8284–8289, Juli 2016.

[13]    B. Bonaz u. a., „Chronic vagus nerve stimulation in Crohn’s disease: a 6-month follow-up pilot study“, Neurogastroenterol. Motil. Off. J. Eur. Gastrointest. Motil. Soc., Bd. 28, Nr. 6, S. 948–953, Juni 2016.

[14]    J. F. Sacramento u. a., „Bioelectronic modulation of carotid sinus nerve activity in the rat: a potential therapeutic approach for type 2 diabetes“, Diabetologia, Jan. 2018.

[15]    „SetPoint Medical wins FDA IDE trial nod for rheumatoid arthritis implant trial“, MassDevice, 11-Dez-2017. [Online]. Verfügbar unter: https://www.massdevice.com/setpoint-medical-wins-fda-ide-trial-nod-rheumatoid-arthritis-implant-trial/. [Zugegriffen: 26-Jan-2018].

[16]    S.-K. Kang u. a., „Bioresorbable silicon electronic sensors for the brain“, Nature, Bd. 530, Nr. 7588, S. 71–76, Feb. 2016.

[17]    Reuters, „Pfizer Is Ending Research Into New Drugs for Alzheimer’s and Parkinson’s Diseases“, Fortune, 08-Jan-2018. [Online]. Verfügbar unter: http://fortune.com/2018/01/08/pfizer-alzheimers-drug-research-end/. [Zugegriffen: 26-Jan-2018].