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27.04.2021 Fachinformation

Flatten-the-Curve? Ab 2023 rollt die große Welle an MDR-Zertifizierungen auf die Benannten Stellen zu

Die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) ist das Top-Thema der Medizintechnikbranche und betrifft Hersteller und Benannte Stellen gleichermaßen. Über die Herausforderungen und drohenden Engpässe aus Sicht einer Benannten Stelle sprach Dr. Cord Schlötelburg, Geschäftsbereichsleiter Health beim VDE, mit Michael Bothe, Co-Leiter der Zertifizierungsstelle für Aktive Medizinprodukte bei der DQS Medizinprodukte GmbH.

Ab dem 26. Mai 2021 gilt die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR). Die Unternehmen der Medizintechnikbranche stehen dadurch vor großen Herausforderungen. Insbesondere Hersteller müssen einen deutlich höheren Aufwand betreiben, um Medizinprodukte in Europa unter dem neuen Rechtsrahmen in Verkehr zu bringen. Doch nicht nur das: Bei einigen neuen oder verschärften Regeln ist deren genaue Auslegung unklar. Zudem hat die EU-Kommission in einigen Fällen noch nicht die vollständigen Voraussetzungen für die Umsetzung der MDR geschaffen. Bestes Beispiel ist die europäische Medizinproduktedatenbank EUDAMED.

Doch nicht nur die Hersteller von Medizinprodukten sind unmittelbar von den Änderungen der MDR betroffen. Die MDR führt auch dazu, dass die Benannten Stellen erheblich höhere Anforderungen erfüllen müssen, um unter dem neuen Rechtsrahmen zertifizieren zu können. Von den etwa 50 benannten Stellen nach europäischer Medizinprodukterichtlinie (MDD) sind bislang nur 20 Organisationen nach MDR benannt. Branchenvertreter warnen daher davor, dass nicht genügend Benannte Stellen zur Verfügung stehen, um einen reibungslosen Übergang auf die MDR zu gewährleisten.

Wir sind dieser Problematik auf den Grund gegangen und haben das Gespräch mit einer Benannten Stelle gesucht. Über die Herausforderungen der MDR aus Sicht einer Benannten Stelle sprach Dr. Cord Schlötelburg, Geschäftsbereichsleiter Health beim VDE, mit Michael Bothe, Co-Leiter der Zertifizierungsstelle für Aktive Medizinprodukte bei der DQS Medizinprodukte GmbH.

Die DQS Med wurde am 08. August 2020 in der europäischen NANDO-Datenbank als Benannte Stelle nach MDR gelistet. Wie verlief der Benennungsprozess?

Bothe: Gut aber mit viel Arbeit. Die Anforderungen der MDR sind hoch und das schlägt sich auch im Benennungsprozess nieder. Wir haben insgesamt etwa zweieinhalb Jahre investiert, inklusive aller Vorbereitungen. Operativ hatten wir am meisten mit der ZLG, der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, zu tun und weniger mit der EU-Kommission selbst. Die Zusammenarbeit mit der ZLG lief sehr gut und professionell ab.

Und die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission? 

Bothe: Ein großer Teil des Aufwands ergab sich aus Abweichungen, die in den Joint Audits der ZLG und der EU festgestellt wurden, und die wir dann abgearbeitet haben. Hier hat man gemerkt, dass der Prozess noch neu ist. Es kam zwischen den Bewertungen der ZLG und der EU zu Inkonsistenzen durch unterschiedliche Auslegungen von Anforderungen. Dies hat zu Mehraufwand geführt. Außerdem mussten wir viele Fachkräfte finden, an Bord nehmen und schulen.

Waren die Fachkräfte die größte Herausforderung?

Bothe: Ja. Wir mussten nachweisen, dass uns sowohl Auditoren für Qualitätsmanagementsysteme als auch Produktaktenprüfer in ausreichender Zahl und mit dem richtigen Fachspektrum zur Verfügung stehen. Durch die MDR sind insbesondere die Anforderungen an die Prüfung der Technischen Dokumentation und damit der Produktakten erheblich gestiegen. Das gilt auch für die Produktaktenprüfer, die mindestens 2 Jahre einschlägige Erfahrung oder 5 geprüfte Produktakten unter der MDD innerhalb von 2 Jahren nachweisen müssen. Das war im Einzelfall schwer zu realisieren, vor allem bei fachlichen Nischen. Dort gibt es dann einfach wenige Fachleute. Wir haben daher mehr als 600 Normen im Rahmen von über 100 Webinaren in 3 Leveln intern geschult, um die entsprechenden Kenntnisse zu vermitteln und Nachweise dafür zu erbringen.  

Also suchen alle Benannten Stellen nach geeigneten Fachkräften?

Bothe: Ja, und hinzu kommen die etwa 20 Organisationen, die es noch werden wollen. Wichtig ist, flexibel beim Onboarding zu sein und digitale Tools zu nutzen. Wir hätten unsere internen Schulungen nur schwer als Präsenzworkshops durchführen können. Unsere Produktaktenprüfer arbeiten überwiegend von zu Hause aus und können überall sitzen. Einen Teil der Fachkräfte haben wir als Freelancer eingebunden. Und auch die kontinuierliche Weiterbildung unserer Fachleute können wir in großen Teilen digital handhaben. Trotzdem ist der Aufwand hoch. Ich habe daher meine Zweifel, ob die noch ausstehenden Benennungen anderer Organisationen durch die EU schnell genug erfolgen und ob das alle durchhalten können.

Das heißt, wir müssen von einem Mangel an Benannten Stellen ausgehen? 

Bothe: Ich glaube, man muss hier differenzieren. Benannte Stellen haben unterschiedliche Scopes, das heißt, sie decken ein unterschiedliches Fachspektrum ab. Davon hängt das Finanzierungsmodell einer Benannten Stelle ab. Es ist ein Unterschied, ob man ausschließlich Qualitätsmanagementsysteme zertifiziert und Produktakten prüft oder als Vollsortimenter auch noch Baumusterprüfungen anbietet. Die Kosten für Personal und technische Infrastruktur unterscheiden sich. Außerdem braucht man unterschiedliche Fachkräfte. Im Idealfall passen die verfügbaren Scopes und das Kapazitätsangebot ab Anfang 2023 perfekt zur Nachfrage am Markt. Ich habe allerdings erhebliche Zweifel, dass dies eintreten wird. 

Sollten nicht eigentlich jetzt schon genügend Benannte Stellen vorhanden sein und nicht erst 2023? Am 26. Mai 2021 ist Geltungsbeginn der MDR.

Bothe: Eigentlich schon. Wir sehen aber, dass die Hersteller die Übergangsfrist bis Mai 2024, soweit es geht, nutzen. Das bedeutet, dass ein großer Teil der Richtlinienzertifikate vor dem 26. Mai 2021 nochmal verlängert werden und dann bis Mai 2024 gelten. Und genau das bereitet mir am meisten Sorge, denn wir müssen davon ausgehen, dass dadurch ab Mitte 2023 eine große Bugwelle an MDR-Zertifizierungen auf uns zurollt. Die vorhandenen Benannten Stellen werden diese nicht bewältigen können, selbst wenn bis dahin noch einige zusätzliche Organisationen benannt werden.

Warum sind die Hersteller bei der MDR-Zertifizierung noch so zurückhaltend?

Bothe: Dafür gibt es viele Gründe und die wirtschaftlichen sind vermutlich am wichtigsten. Wenn ein Hersteller ein etabliertes Produkt noch länger im Markt halten kann und es nicht verändern muss, verlängert er das Zertifikat, solange es geht. Ein anderer Grund ist die Corona-Pandemie. Die hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Hersteller. Die einen konnten ihre Umsätze steigern und andere wiederum nicht, wie zum Beispiel im zahnmedizinischen Bereich. Dann sind die Hersteller zurückhaltend, was neue Zertifizierungen angeht. Insgesamt tun sich vor allem die kleineren Hersteller schwer mit den Anforderungen der MDR. Wir stellen immer wieder fest, dass noch viele Wissenslücken vorhanden sind. Hinzu kommen die Kosten. Bei einem Klasse III-Produkt muss zum Beispiel jede einzelne Produktakte geprüft werden, was zu einem enormen Zeitbedarf und hohen Kosten führt.

Was sind denn die häufigsten Probleme, die bei der MDR-Zertifizierung in der Praxis auftauchen? 

Bothe: Das lässt sich schwer allgemein beantworten. Der Teufel steckt im Detail. Es hängt auch stark davon ab, ob es ein erfahrener oder weniger erfahrener Hersteller ist. Aus Sicht eines erfahrenen Herstellers ist nicht alles neu unter der MDR. Daher empfehlen wir, zunächst ein Pilotprodukt höherer Risikoklasse zertifizieren zu lassen, um zu schauen, woran es ggf. hakt. Was wir generell häufiger sehen, ist, dass die Anforderungen an die Unterlagen, die vom Hersteller bereitgestellt werden, unterschätzt werden und dass wir dann einiges nachfordern müssen. Wir sehen aber auch andere Probleme. Kleineren Unternehmen fehlt es zum Beispiel zum Teil an englischer Sprachkompetenz, die aber im MDR-Umfeld deshalb wichtig ist, weil sonst Gutachter aus dem nicht-deutschsprachigen Raum nicht mit dem Hersteller kommunizieren können.

Und welche Erfahrungen haben Sie mit weniger erfahrenen Herstellern gesammelt?

Bothe: In Erstgesprächen stellen wir zum Teil fest, dass grundlegende Dinge nicht vorhanden sind oder das Qualitätsmanagementsystem nach ISO 13485 überhaupt erst adäquat aufgebaut werden muss. Hier sind die Anforderungen übergreifender als früher. Das führt auch dazu, dass wir in jedem Fall erstmal die Produktakten anschauen, bevor ein Audit des Qualitätsmanagementsystems in Frage kommt. Initial schauen wir uns die Organisationsstruktur des Herstellers an und das Produktportfolio. Dann können wir eine Aufwandsabschätzung vornehmen. Was wir häufig erleben ist, dass bei Klasse IIa- oder IIb-Produkten einzelne Produktakten aus den zu zertifizierenden Produktgruppen vom Hersteller nicht bereitgestellt werden können.

Gibt es aus Ihrer Sicht noch andere Defizite, die die MDR-Zertifizierung erschweren?

Bothe: Corona bedingt können wir Audits nur in Ausnahmefällen vor Ort durchführen. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass Remote-Audits eine gute Alternative sind und in den meisten Fällen gut funktionieren. Allerdings dürfen wir Remote-Audits immer noch nicht bei Erstzertifizierungen durchführen. Dies behindert den Übergang zur MDR. Ein weiteres Problem betrifft die Normen. Es gibt noch keine mit der MDR harmonisierten Normen. Und es ist im Moment nicht absehbar, ob oder wann wir diese haben werden. Gleiches gilt für die in der MDR angekündigten Common Specifications. Mit einer Ausnahme liegen diese noch nicht vor. Das alles schafft Unsicherheiten auf Seiten der Hersteller und der Benannten Stellen. Schwierig ist auch nach wie vor die Auslegung des Begriffs der Significant Changes. Hier gibt es zwar eine erläuternde MDCG Guideline, aber in der Umsetzungspraxis stellen sich viele Fragen.

Was empfehlen Sie mit Blick auf eine möglichst reibungslose Umsetzung der MDR?

Bothe: Das, was auch zu Corona-Zeiten nützlich ist, nämlich Flatten-the-Curve. So wie es im Moment aussieht, müssen wir mit einer großen Zahl an MDR-Zertifizierungen vor Ablauf der Übergangsfrist am 26. Mai 2024 rechnen. Wahrscheinlich werden vor allem die Hersteller, die nach MDR zum ersten Mal eine Benannte Stelle brauchen, zu spät sein und keine Chance haben, eine mit freien Kapazitäten und passendem Scope zu finden. Es wäre sehr hilfreich diese Zertifikate-Bugwelle abzuflachen. Neu-MDR-Hersteller sollten daher am besten noch dieses oder Anfang des nächsten Jahres Pilotprojekte starten und die MDR-Zertifikate für die höheren Risikoklassen auf den Weg bringen.


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