Prof. Dr.-Ing. Jens Haueisen

Prof. Dr.-Ing. Jens Haueisen

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24.03.2022 Fachinformation

Medizintechnik: Mehr Forschung statt mehr Bürokratie

Im vergangenen Monat wurde Prof. Dr. Jens Haueisen zum neuen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT im VDE) gewählt. Dies haben wir zum Anlass genommen, über die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen der Medizintechnikbranche mit Prof. Haueisen zu sprechen. Das Gespräch führte Dr. Cord Schlötelburg, Leiter Health im VDE.

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Dr. Cord Schlötelburg

Herr Haueisen, wie steht es um die Medizintechnikbranche in Deutschland?
Ich denke insgesamt geht es der Medizintechnikbranche gut, und hier beziehe ich die Medizintechnik-Forschung ausdrücklich mit ein. Wir haben seit vielen Jahren ein solides Wachstum erlebt, die Branche ist international anerkannt und exportiert innovative Produkte in die ganze Welt. Auch die Medizintechnikforschung ist über die Jahre immer weiter gewachsen und mit ihr die Zahl an Studiengängen, Absolventen und Fachkräften. Deutschland forscht in der Medizintechnik auf internationalem Top-Niveau und ist auch hervorragend vernetzt. Aber: all das bedeutet nicht, dass es keine Herausforderungen mehr gibt und nichts mehr zu verbessern ist.


Von welchen Herausforderungen sprechen Sie?
Ich bin seit rund 30 Jahren in der Medizintechnik aktiv. Wenn ich einmal die vergangenen Jahre resümiere, hat sich vieles positiv entwickelt, aber eben nicht alles. Als erstes fällt mir dabei Bürokratie ein. Die hat in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen, und zwar in allen Bereichen, sei es nun bei der Regulierung von Medizinprodukten, bei der Abwicklung von Förderprojekten oder beim Datenschutz, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn wir früher eine Studie gemacht haben, mussten wir einen zweiseitigen Antrag bei der Ethikkommission abgeben. Heute sind es um die 80 Seiten und dazu noch eine Reihe weiterer zu erfüllender Anforderungen. All das kostet Zeit, in der nicht produktiv gearbeitet werden kann.


Als zweites denke ich an die Auswirkungen internationaler Krisen, wie zum Beispiel der Finanzkrise oder der Corona-Pandemie. Diese Krisen gehen auch an der Medizintechnikbranche nicht spurlos vorbei und haben in der Regel länger anhaltende Folgen. Welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine haben wird, können wir im Moment kaum abschätzen. Was wir aber bereits als Folge der Corona-Pandemie gesehen haben, sind die Instabilität von Lieferketten und die daraus resultierenden Abhängigkeiten. Zu diesem Thema hat die DGBMT vor kurzem ein Positionspapier veröffentlicht. Dort arbeiten wir heraus, was wir tun müssen, um technologische Souveränität in der Medizintechnik zu gewährleisten. Durch die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine sind die Empfehlungen des Positionspapiers ja aktueller denn je.


Gibt es auch technologische Herausforderungen?
Ja, selbstverständlich. In Deutschland finden viel Forschung und Entwicklung im Bereich der Gerätetechnik statt, also in den klassischen Bereichen Maschinenbau und Elektrotechnik. Dabei werden etablierte Medizintechnologien, zum Beispiel MRT-Geräte, CT-Geräte, EEG-Geräte, Beatmungsgeräte oder auch Endoprothesen kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklungen sind oft Innovationen, die zu völlig neuen Anwendungen führen. Ein Beispiel sind die Trockenelektroden bei EEG-Geräten, die es nun auch erlauben ein EEG zu Hause und nicht mehr ausschließlich im Krankenhaus durchzuführen. Ein echter Game-Changer also! Wenn Sie diese Entwicklungen machen möchten, müssen Sie eine Reihe technischer Probleme lösen. Beispiele gibt es viele, etwa, dass Technologien verkleinert, oberflächenfunktionalisiert oder mit anderen Materialien realisiert werden müssen. Aber es gibt auch technologische Herausforderungen, wo wir bislang keine ausreichenden Fortschritte gemacht haben. Nehmen Sie zum Beispiel die funktionelle Hirnstimulation. Hier gelingt es trotz intensiver Forschung und Entwicklung über viele Jahre nicht, die Stimulationen präzise genug durchzuführen.


Erkennen Sie auch grundlegende Trends, was Forschung und Entwicklung in der Medizintechnik angeht?
Ich denke, dass die übergeordneten Trends Biologisierung, Miniaturisierung und Digitalisierung nichts an Aktualität verloren haben und uns auch noch viele Jahre begleiten werden. Es sind zum Beispiel viele Aspekte an der Schnittstelle zwischen technischen und biologischen Systemen noch nicht ausreichend verstanden. Die Entwicklung erfolgreicher biologischer Medizinprodukte dauert daher oft sehr lange und ist kostenintensiv. Hier muss zwar noch viel Arbeit investiert werden, aber der potenzielle medizinische Nutzen solcher Technologien ist sehr hoch. Bei der Miniaturisierung werden kontinuierlich Erfolge erzielt und die Geräte bzw. Komponenten werden immer kleiner und integrierter. Die schnellsten und sichtbarsten Erfolge erzielt man bei der Digitalisierung. Hier ist zum Beispiel die Anwendung von Künstlicher Intelligenz in der Medizin sehr vielversprechend.


Die Ergebnisse aus Forschung und Entwicklung müssen auch zu den Patienten gelangen. Wie steht es denn um die Translation in die Versorgung?
Das lässt sich schwer pauschal beantworten. Ich denke insgesamt erreichen unsere Ergebnisse die Patienten. Das lässt sich an der Vielzahl der erfolgreichen Medizinprodukte in der Gesundheitsversorgung ablesen. Im Einzelfall kann der Ergebnistransfer aber schwierig sein. Oftmals behindern knappe Ressourcen vor allem im klinischen Bereich, dass Projekte weiterverfolgt werden können. Zu knappen Ressourcen zähle ich auch knappe Zeitbudgets bei den medizinischen Kolleginnen und Kollegen. Eine weitere Schwierigkeit sind die regulatorischen Anforderungen. Die sind durch die europäische Medizinprodukteverordnung erheblich gestiegen und machen die Durchführung von klinischen Studien sehr schwer. Hier geht die zunehmende Bürokratie klar zu Lasten von Innovation und führt oft dazu, dass vielversprechende Projekte angesichts des Aufwands abgebrochen werden.


Das heißt, die europäische Medizinprodukteverordnung ist auch aus dem Blickwinkel der Forschung ein Problem?
Ja. Wir haben uns auch schon vor der MDR mit den regulatorischen Anforderungen befasst und diese bei unseren Projekten berücksichtigt. Jetzt aber sind die Anforderungen derart gestiegen, dass wir sie in praktisch jedem Förderprojektantrag von vornherein einbeziehen müssen. Dazu haben wir die entsprechende Kompetenz über die Jahre aufgebaut und haben zum Beispiel schon eigene Usability-Studien durchgeführt. Damit unsere Arbeiten förder- und anschlussfähig bleiben, müssen wir diesen Aufwand betreiben. Aber: all das geht zu Lasten unsere Kernaufgabe, die darin besteht, Forschung und Entwicklung zu betreiben und nicht eine überbordende Dokumentation zu erzeugen.


Bleiben wir noch kurz bei den Herausforderungen. Wie wird denn die Medizintechnikforschung von den Auswirkungen der Corona-Pandemie beeinflusst?
Wie alle anderen Bereiche oder Branchen hat Corona auch den Forschungsbetrieb stark beeinflusst. Labore waren geschlossen, die Arbeitsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen war eingeschränkt oder die Arbeit wurde ins Homeoffice verlagert, es gab Probleme bei der Kinderbetreuung, die Quarantänebestimmungen haben ihre Auswirkungen gehabt und wir haben alle Präsenzveranstaltungen in den digitalen Raum transferiert. Diese und andere Maßnahmen gibt es zum Teil auch jetzt noch, und die Arbeit ist dadurch natürlich erschwert worden. Als besonders problematisch empfinde ich die fehlenden Präsenzmeetings mit den Kolleginnen und Kollegen. Forschung lebt von Vernetzung und Austausch. Hier sind Präsenzmeetings durch nichts zu ersetzen, und ich bin überzeugt, dass wir hier perspektivisch zu einer weitgehenden Normalisierung zurückkehren.


Sie haben wesentliche technologischen Entwicklungen beschrieben und auch Herausforderungen der Medizintechnikbranche benannt. Was muss passieren, damit innovative Medizintechnik weiterhin ihren Weg zu den Patienten findet?
Zum einen müssen wir den Aufwand senken, den wir für Bürokratie betreiben. Unser Auftrag besteht darin, Forschung und Entwicklung für Medizintechnik zu betreiben, die Patienten auch erreicht und ihnen hilft. Immer weiter steigende administrative Anforderungen behindern das. Sichere Medizintechnik ist wichtig, aber wir sollten nicht der Illusion erliegen, dass eine immer umfangreichere Dokumentation zwingend dazu führt, dass Patientensicherheit auch tatsächlich erreicht wird. Zum anderen müssen wir dafür Sorge tragen, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen für Forschung und Entwicklung ausreichend diversifiziert und themenoffen sind. Wir brauchen möglichst flexible und offene Förderinstrumente. Dies sichert die Innovationen von morgen. Und ich denke, dass wir uns auch in der Medizintechnik stärker mit den Aspekten Klimaschutz und Ressourcenschonung befassen sollten. Dieses Thema ist sehr wichtig für die Sicherung unserer Zukunft. Auch die Medizintechnik muss sich an dieser Stelle fragen, wo es Verbesserungspotenziale gibt.


Und nun noch der Blick in die Glaskugel. Wo werden wir in 10 Jahren in der Gesundheitsversorgung mit Medizintechnik stehen?
Ich bin überzeugt, dass wir in 10 Jahren eine bessere Gesundheitsversorgung haben werden, und zwar vor allem in qualitativer Hinsicht. Medizintechnik wird dazu einen wichtigen Teil beitragen. Ich denke, dass vor allem die Fortschritte bei der Digitalisierung dazu führen werden, dass medizinische Methoden personalisierter, dadurch spezifischer und in der Folge risikoärmer sein werden. Künstliche Intelligenz-Algorithmen werden dabei eine wesentliche Rolle spielen, denn sie werden uns in die Lage versetzen, aus den Gesundheitsdaten diejenigen Querverbindungen und Erkenntnisse zu ziehen, die Behandlungen maßgeschneidert werden lassen.


Vielen Dank für das Gespräch!