Portrait Christian Otto Erbe
© Ralph Koch
20.04.2021 Fachinformation

Regulierung oder Innovation? Die Medizintechnikbranche in Deutschland durchlebt wechselhafte Zeiten


Die Medizintechnikbranche in Deutschland hat nicht nur mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu tun. Sie kämpft auch mit den Auswirkungen steigender Zulassungsanforderungen. Über die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Medizintechnikbranche sprach Dr. Cord Schlötelburg, Geschäftsbereichsleiter Health beim VDE, mit Christian Otto Erbe, Geschäftsführendem Gesellschafter der Erbe Elektromedizin GmbH und Stellvertretendem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE.

Wie geht es der Medizintechnikbranche?

Erbe: Die Medizintechnikbranche durchlebt wechselhafte Zeiten. Die Corona-Pandemie trägt stark dazu bei. Viele glauben, die Medizintechnikbranche würde von einer erhöhten Nachfrage in Pandemiezeiten profitieren, aber das ist nur teilweise der Fall, und das vor allem bei den Schutzprodukten. Selbst bei den Beatmungsgeräten stellt sich die Lage nicht durchgängig positiv dar, denn es wurden viele Bestellungen wieder storniert. Die daraus entstandenen Folgekosten wurden nicht erstattet. Insgesamt ist Corona eine Belastung für die Medizintechnikbranche.

Wo sind denn die größten Probleme durch die Pandemie entstanden?

Erbe: Es haben sich weniger Menschen medizinisch behandeln lassen. Viele Eingriffe sind ausgefallen oder wurden verschoben. Außerdem gab es Probleme in den internationalen Lieferketten. Dies führt zu Umsatzausfällen bei den Herstellern. Weiterhin können viele Aktivitäten in Marketing und Vertrieb nicht durchgeführt werden, da physische Kontakte nur eingeschränkt möglich sind und zum Beispiel Kongresse und Messen nicht stattfinden. Hiervon sind aber alle Hersteller gleichermaßen betroffen.

Und wie geht es weiter nach der Corona-Pandemie?  

Erbe: Noch sind wir mittendrin. Es gibt aber positive Zeichen. Wir stellen eine zunehmende Investitionstätigkeit bei unseren Kunden fest, vor allem auch in China. Dort sind die Pandemieauswirkungen nicht mehr so stark zu spüren wie etwa bei uns. Ich gehe davon aus, dass es insgesamt Nachholeffekte geben wird und sich die Umsätze spätestens 2022 wieder auf ein Vor-Corona-Niveau einpendeln werden. Was mir allerdings mehr Sorge bereitet sind die Investitionen der Medizintechnikhersteller in Forschung und Entwicklung. Durch Corona sind hier viele Projekte gestoppt worden und es stellt sich die Frage, in welchem Umfang diese Aktivitäten fortgeführt werden. Forschung und Entwicklung sind ja leider nicht nur vom Corona-Virus betroffen, sondern auch von der MDR.

Sie sprechen die Auswirkungen der europäischen Verordnung über Medizinprodukte an, die ab 26. Mai gilt?

Erbe: Ja. Die MDR ist eine sehr große Herausforderung für die Hersteller, und das vor allem für Start-Ups und für kleinere und mittlere Betriebe. Der Aufwand ist extrem hoch. Ich befürchte, dass der Aufwand für viele Unternehmen zu hoch sein wird. Obwohl die MDR schon 2017 in Kraft getreten ist, haben sich viele kleinere Hersteller noch nicht richtig darauf vorbereitet. Ich schätze, das betrifft ungefähr ein Drittel aller kleineren Unternehmen. Die spielen aber eine wichtige Rolle für die deutsche Medizintechnikindustrie, die mittelständisch geprägt ist. Es wäre weder für die Branche noch für die Patientenversorgung gut, wenn diese Unternehmen infolge der MDR nicht überleben würden.

Was genau macht denn die Umsetzung der MDR so schwer für die Hersteller?

Erbe: Das sind die vielen, zum Teil neuen regulatorischen Anforderungen an die Produkte und der überbordende Dokumentationsaufwand. Die Hersteller müssen viele Fachleute einstellen und Know-how aufbauen, um die Anforderungen der MDR zu erfüllen. Das kostet Ressourcen, die am Markt erwirtschaftet werden müssen, und die an anderer Stelle den Unternehmen fehlen. Darunter leiden vor allem die Budgets für Forschung und Entwicklung.

Das bedeutet, Regulierung und Innovation vertragen sich nicht?

Erbe: Die MDR ist sicher nicht förderlich für Innovation bei Medizinprodukten. Der Fokus wird mehr und mehr auf Regulierung verschoben. Mein Ururgroßvater hat mein Unternehmen 1851 in einer Werkstatt in Tübingen gegründet, dort Produkte entwickelt, diese gefertigt und anschließend vermarktet. Das wäre heutzutage nicht mehr möglich. Ein heutiges Start-Up muss vor dem Marktstart erstmal eine Abteilung für Qualitätssicherung und Zulassung aufbauen. Das ist eine riesige Hürde und geht zu Lasten von neuen Ideen und innovativen Medizinprodukten.

Wird die MDR die Medizintechnikbranche also insgesamt verändern?

Erbe: Davon gehe ich aus. Medizintechnikunternehmen in der EU werden im internationalen Wettbewerb an Innovationskraft verlieren, vor allem gegenüber denen aus China und den USA. In China ziehen die regulatorischen Anforderungen zwar auch an, aber Größe und Attraktivität des Wirtschaftsraums gleichen das aus. In den USA sehen wir eine gegenteilige Entwicklung. Dort hat man die innovationshemmende Wirkung der Regulierung erkannt und ist eher bemüht, das Zulassungssystem zu flexibilisieren. Was folgt, ist eine Konsolidierung der Medizintechnikbranche. Mich wundert es daher nicht, dass wir bereits jetzt viele Unternehmensübernahmen sehen. Wir verfolgen das Umfeld an dieser Stelle sehr intensiv und sind bei der Übernahme von Medizintechnikunternehmen selbst aktiv geworden. Auch hier spielt die MDR wieder eine wichtige Rolle, denn Unternehmen, deren Prozesse nicht MDR-ready sind, sind nur selten attraktive Übernahmekandidaten.

Sie haben das internationale Marktumfeld angesprochen. Welche Trends erkennen Sie dort? Wirken sich etwa Handelsbeschränkungen aus oder gibt es allgemeine Entwicklungen bei den Margen?

Erbe:  Was die Margen angeht, sind die Märkte individuell sehr unterschiedlich. In Deutschland sind die Margen ja bekanntermaßen sehr niedrig. Es gibt in den meisten Märkten laufende Diskussionen zu Einsparungen im Gesundheitswesen, die sich auf die Margen perspektivisch auswirken können. Die USA sind hiervon stark betroffen, da das US-amerikanische Gesundheitssystem als sehr ineffizient gilt. Es wird auch abzuwarten sein, wie sich die Corona bedingten Ausgaben auf Gesundheitsbudgets mittel- bis langfristig auswirken. Was Handelsbeschränkungen angeht, sind die aktuellen Auswirkungen eher moderat, zum Beispiel die des Brexits oder bestimmter Zollbarrieren. Eher kritisch sind Abschottungstendenzen, wie wir sie vor allem in China, Indien und Russland beobachten können. Diese Länder drängen stark auf eine Produktfertigung im Inland. Das kann für kleine und mittlere Unternehmen zu einer großen Herausforderung werden, selbst wenn die Fertigungstiefe begrenzt ist oder wenn es geeignete inländische Partnerunternehmen gibt.     

Welche Rolle nimmt China jetzt und zukünftig ein?

Erbe: Eine wichtige Rolle. China ist schon jetzt ein sehr wichtiger Absatzmarkt für Medizinprodukte. Der chinesische Markt ist aber sehr segmentiert. Hochpreisige westliche Medizinprodukte sind nicht in allen Segmenten passfähig. Aber der chinesische Markt wird sich nach und nach entwickeln, so dass er absehbar zum größten weltweit wird. Die chinesischen Hersteller werden von dem riesigen Binnenmarkt am meisten profitieren und innovativere Produkte entwickeln und vermarkten können. Gleichzeitig hat China geringere Kosten für Entwicklung und Produktion, vor allem durch niedrigere Sozial-, Umwelt- und Sicherheitsstandards. Die jetzigen Marktteilnehmer müssen sich also sehr warm anziehen. Allerdings bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich China insgesamt entwickeln wird, etwa mit Blick auf das politische System, Menschenrechte oder die Öffnung gegenüber einem eher westlich geprägten Lebensstil.

Die deutsche Medizintechnikbranche muss also in jedem Fall innovativ bleiben oder besser noch innovativer werden, um in den weltweiten Märkten erfolgreich zu bleiben. Wie kann das am besten gelingen?

Erbe: Ideen und Innovationen müssen konsequent weiterverfolgt werden, sowohl in der Versorgung als auch in der Medizintechnik. In den Krankenhäusern gibt es zum Beispiel noch viel Luft nach oben, was Prozesse, Qualität und Effizienz angeht. Die meisten Krankenhäuser schreiben rote Zahlen, und es fehlt oft eine adäquate Infrastruktur, auch mit Blick auf Datennutzung und Interoperabilität. Hier kann die Medizintechnik einen guten Beitrag leisten, indem sie Lösungen anbietet, die zu den Prozessen in der medizinischen Versorgung passen und die richtigen Schnittstellen bedient. Das Krankenhauszukunftsgesetz gibt hier die richtigen Impulse und spielt auch für die Medizinproduktehersteller eine wichtige Rolle. Die Hersteller dürfen diesen Zug nicht verpassen und sollten entsprechende Lösungen anbieten. Bei der Medizintechnik selbst sind Digitalisierung und Datennutzung auch die beherrschenden Themen, etwa bei Ansätzen, die auf maschinellem Lernen oder künstlicher Intelligenz basieren. Dann gibt es eine Reihe spezieller Themen. Ein Beispiel ist die intraoperative Gewebedifferenzierung mit optischen Technologien, wo wir uns als Unternehmen auch selbst engagieren. Aber insgesamt würde die Medizintechnikbranche von einem breiteren Spektrum neuer Technologien profitieren.

Wird denn richtig und ausreichend gefördert, um neue Medizintechnologien für die Anwendung in der Versorgung zugänglich zu machen?

Erbe: Es gibt in Deutschland eine Reihe von Förderprogrammen, die auch für Medizintechnologien in Frage kommen, aber es fällt schwer, den Überblick zu behalten. Insgesamt fehlt mir an dieser Stelle ein wirklich großer Wurf, der international wettbewerbsfähige Fördervolumina und eine zu Industrie und medizinischer Versorgung passfähige Fördersystematik beinhaltet. Viele Innovationen laufen bei uns Gefahr, zwischen administrativen Anforderungen und realitätsfernen Bestimmungen auf der Strecke zu bleiben. Vielleicht wäre das anders, wenn die gesellschaftliche Wahrnehmung der Bedeutung der Medizintechnik eine andere wäre. Die erscheint mir verbesserungswürdig. Hier haben wir als Medizintechnikbranche noch einiges zu tun.


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