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04.10.2018 Fachinformation

Der Digitale Zwilling ist Wegbereiter für alle Industrie-4.0-Netze

Der digitale Zwilling – also ein digitales Abbild des kompletten Produktionsprozesses – hat längst Einzug in die Industrie gehalten. Durch den Einsatz dieses Werkzeugs steigt die Effizienz, minimiert sich die Fehlerquote, verkürzen sich Entwicklungszyklen und eröffnen sich neue Geschäftsmodelle. Wie wichtig ist der digitale Zwilling für die Fabrik der Zukunft? Wie weit ist die deutsche Wirtschaft auf diesem Gebiet und welche technischen Hürden gilt es noch zu nehmen? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt Dr.-Ing. Gunther Kegel, CEO der Pepperl+Fuchs GmbH und amtierender VDE-Präsident.

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Porträt Dr.-Ing. Gunther Kegel

Dr.-Ing. Gunther Kegel: „Die größte Hürde ist zurzeit die Angst vor informationstechnischen Sicherheitslücken, also die IT-Security. "

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Was ist ein Digitaler Zwilling und was kann man mit ihm anfangen?

Kegel: Der Digitale Zwilling ist kein eindeutig belegter Begriff. Früher war er die Bezeichnung eines digitalen Abbilds realer Objekte in einem CAD-Umfeld, um beispielsweise Fabrikabläufe zu simulieren. Inzwischen haben wir auf der Plattform Industrie 4.0 (I4.0) die sogenannte Verwaltungsschale definiert. Sie ist quasi ein Interface zwischen Komponenten wie Sensoren und Aktoren und der I4.0-Welt. Die Verwaltungsschale ist eine vollständige, anwendungsunabhängige digitale Beschreibung und wird häufig synonym zum Begriff Digitaler Zwilling verwendet.

Welche Rolle spielen Digitale Zwillinge in der Fabrik der Zukunft?

Kegel: Die Industrie der Zukunft wird in drei Dimensionen zu einem Industrial Internet of Things – lloT vernetzt. Die Dimensionen lauten Wertschöpfung beziehungsweise Lifecycle, Anwendungsaspekte und Systemhierarchie. Sie sind in der Referenzarchitektur RAMI 4.0 perfekt dargestellt. Jede Komponente dieses dreidimensionalen Netzes muss in einer Verwaltungsschale – ihrem digitalen Zwilling – alle digitalen Informationen bereithalten, die für die Kommunikation in den drei erwähnten Dimensionen benötigt werden. Somit ist der Digitale Zwilling künftig essenzielle Voraussetzung für alle Industrie-4.0-Netze.

Wie weit verbreitet ist der Digitale Zwilling inzwischen in der Industrie?

Kegel: Das Konzept der Verwaltungsschale ist neu und noch nicht in allen Punkten vollständig. Es setzt auf bekannten ISO-, aber vor allem auf IEC-Standards auf. Im Moment entstehen die notwendigen Richtlinien zur Implementierung. Erst nach Abschluss dieser Arbeit können Hersteller und Integratoren dann mit dem Ausrollen dieser neuen digitalen Technologie beginnen.

Welche Ziele verfolgt die Industrie mit diesem Ansatz?

Kegel: Mit der Verwaltungsschale sollen sich künftig alle Industrie-4.0-Komponenten unabhängig von ihrem Hersteller und offen in die entstehenden Industrie-4.0-Netze integrieren lassen. Unsere Geräte, Maschinen, Anlagen und Fabriken stammen immer von verschiedenen Lieferanten – sind also immer Multi-Vendor-Systeme – bei denen eine Vielzahl von Herstellern zusammenarbeiten und die Anlagen so aus den jeweils besten Teilstücken zusammengesetzt werden. Diesen Vorteil müssen wir uns auch in der digitalen industriellen Welt erhalten: Der Zugang zu Industrie-4.0-Netzen soll durch eine genormte, digitale Beschreibung aller Teilsysteme vollständig offen sein.

Welches ist das erste konkrete Anwendungsfeld für den Digitalen Zwilling?

Kegel: Ohne Verwaltungsschale keine offenen Industrie-4.0-Netze! Die Verwaltungsschale – oder synonym der Digitale Zwilling – ist der Wegbereiter für alle offenen Industrie-4.0-Netze.

Nach einer Erhebung des Marktforschungsunternehmens Gartner soll bis 2021 die Hälfte aller großen Industrieunternehmen den Digitalen Zwilling einsetzen – wie ist Deutschland hier gerüstet?

Kegel: Ich bin nicht sicher, von welchem digitalen Zwilling Gartner spricht. Im Sinne meiner Definition ist Deutschland bestens gerüstet – wir haben das Prinzip der Verwaltungsschale innerhalb der Plattform Industrie 4.0 hier entwickelt.

Was sind die organisatorischen, technischen und personellen Voraussetzungen für den Digitalen Zwilling?

Kegel: Am Anfang steht die Fähigkeit und Bereitschaft der Unternehmen, Daten aus Maschinen und Anlagen zu erfassen (Konnektivität). Dann müssen die Daten entsprechenden Datenbanken zugeführt werden (Datenmanagement). Schließlich lassen sie sich über Software einsetzen, um einen Kundennutzen zu generieren (Applikation). Das sind die ausschlaggebenden Voraussetzungen, wir nennen das Readyness.

Gibt es noch technische Hürden? Wie lässt sich die Identität des Zwillings sicherstellen?

Kegel: Die größte Hürde ist zurzeit die Angst vor informationstechnischen Sicherheitslücken, also die IT-Security. Geräte, Maschinen und Anlagen sind das Herz der Wertschöpfung. Hier wird das Wissen über Verfahren, Rezepturen, Methoden und Materialien vergegenständlicht. Dieses Wissen müssen die Unternehmen gegen Spionage und Sabotage schützen. Dazu ist eine IT-Security in den eingesetzten Geräten, in der eigenen IT-Landschaft, in der Organisation und schließlich in den Köpfen der Menschen notwendig, die wir zurzeit erst etablieren.

Lässt sich das Konzept des Digitalen Zwillings standardisieren oder bleibt es ein individuelles Werkzeug?

Kegel: Das Konzept der Verwaltungsschale erfordert eine Standardisierung. Der digitale Zwilling als Methodik der Simulation muss auf diesen Standards aufsetzen, bleibt aber unter Umständen selbst herstellergebunden. Das heißt: Die CAD- und Simulationswerkzeughersteller nutzen die genormte datentechnische Repräsentation, prägen den Zwilling in ihren Applikationen aber herstellerabhängig aus.

Entstehen so neue Abhängigkeiten etwa von den Anbietern von Simulationssoftware?

Kegel: Ja, die neue datengetriebene Wirtschaft wird neue Abhängigkeiten zwischen Vertretern des Officefloors und Herstellern der Shopfloors erzeugen. Während der Gerätehersteller von der offenen Integration in Softwareanwendungen abhängig ist, hängt der Softwareanbieter aber umgekehrt genauso von der Bereitstellung und Deutung dieser domänenspezifischen Daten durch den Hersteller ab.