Roboter- und menschliche Hand
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19.06.2018 Fachinformation

Mensch-Roboter-Kollaboration: So arbeiten Mensch und Maschine sicher zusammen

Bereits heute sind Roboter aus Fabriken nicht mehr wegzudenken. Allerdings arbeiten sie derzeit nur in seltenen Fällen Hand in Hand mit Menschen zusammen. In Zukunft führen Mensch und Roboter bei der Mensch-Roboter-Kollaboration jedoch immer häufiger Arbeitsschritte in Produktionsprozessen gemeinsam aus. Dabei wird auf Schutzzäune verzichtet, sodass der Mensch mit dem Roboter im gleichen Raum interagiert. Die Berührung von Mensch und Roboter ist dabei möglich und teilweise auch erforderlich. So lässt sich diese technisch steuern, damit keine Verletzungsgefahr besteht [1].

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Sven Müller

56th International Symposium on Robotics (ISR Europe 2023) I Stuttgart

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2019-08-29
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Grundsätzlich gibt es für die Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) vier verschiedene Schutzprinzipien [2].


1. Handführung: Die Roboterbewegung wird vom Mitarbeiter aktiv mit geeigneter Ausrüstung gesteuert.

Durch umfassende Analysen der Ist-Situation und der Nutzung innovativer Technologien zur Planung und Entwicklung neuer MRK-Analgen in der Produktion werden die Ansprüche an Qualität, Ergonomie, Produkt- und Personensicherheit erfüllt. Ein Roboter darf sich zum Beispiel nur in einer überwachten Geschwindigkeit gemäß Performance Level d (PL d) bewegen. Durch die Risikobeurteilung wird hierbei im Vorfeld die maximale Geschwindigkeit festgelegt. Diese Betriebsart eignet sich, wenn sich Mensch und Roboter einen Arbeitsraum teilen, gleichzeitig arbeiten und physischer Kontakt zwischen Menschen und Roboter besteht, die sogenannte Kollaboration.


2. Geschwindigkeits- und Abstandüberwachung: Ein Kontakt zwischen Mitarbeiter und einem sich bewegenden Roboter wird vom Roboter verhindert.

Ein direkter Kontakt zwischen Menschen und Roboter lässt sich nicht immer verhindern und ist manchmal sogar notwendig. Taktile Sensoren, die wie eine künstliche Haut [3] auf den Roboter aufgebracht werden, können Berührungen sicher erkennen und die Bewegungen des Roboters stoppen. Dabei muss sich die Geschwindigkeit des Roboters reduzieren, sobald sich eine Person nähert. Wird der Mindestabstand zwischen Roboter und einer näher kommenden Person unterschritten, muss der Roboter sicher anhalten.


3. Sicherheitsgerichteter, überwachter Stillstand: Der Roboter hält an, wenn der Mitarbeiter den gemeinsamen Arbeitsraum betritt und fährt weiter, wenn der Mitarbeiter den gemeinsamen Arbeitsraum wieder verlassen hat.

Neueste Technologien heben die Trennung zwischen Mensch und Roboter auf, indem sie die Arbeitsräume mit optischen Sensorsystemen überwachen, dynamische Schutzzonen berechnen und auch Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung des Roboters situationsabhängig anpassen. Eine weitere Technologie erkennt die Annäherung des Menschen an den Roboter im Nahbereich (Kapazitivsensorik). Bei Personenzutritt in den Kollaborationsraum muss der Roboter sicher anhalten. Auch eine Geschwindigkeitsreduzierung mit anschließendem Stopp der Kategorie 2 mit sicherer Überwachung ist möglich. Diese Betriebsart eignet sich für die Koexistenz von Mensch und Roboter. Hierbei ist zwar kein Schutzzaun nötig, Mensch und Roboter teilen sich aber auch keinen Arbeitsraum. Zusätzlich kann diese Betriebsart auch für eine sequenzielle Kooperation zwischen Mensch und Roboter genutzt werden, bei der sich Mensch und Roboter zwar einen Arbeitsraum teilen, dort aber nicht gleichzeitig arbeiten.


4. Leistungs- und Kraftbegrenzung: Die Kontaktkräfte zwischen Mitarbeiter und Roboter werden technisch auf ein ungefährliches Maß begrenzt.

Das Verletzungsrisiko bei einer Kollision eines Menschen mit einem Roboter hängt von vielen Faktoren ab, wie Kraft, Druckverteilung, Körperregion, Kollisionsfläche, Robotergeschwindigkeit und Robotermasse sowie seinem Nachlaufweg. MRK sind leicht, meist 1 bis 30 Kilogramm, damit die potenzielle Kollisionsmasse klein ist, und weisen weiche Rundungen auf, um Kollisionsschäden zu vermeiden [4]. Die Geschwindigkeit sollte nicht schneller als die menschlicher Bewegungsabläufe sein. Die maximale Geschwindigkeit des Handgelenks beträgt zum Beispiel rund 1,5 Meter pro Sekunde mit etwa 0,5 Kilogramm Traglast). Die Bewegungsgeschwindigkeit ist damit deutlich geringer als die von Robotern, die isoliert vom Menschen arbeiten. Aufgaben, die Drehmomente größer 15 Nanometer (Sicherheitswert) erfordern, eignen sich nur bedingt für die MRK, weil der Roboter eventuell nicht zuverlässig zwischen kollisions- und arbeitsbedingten Drehmoment unterscheiden kann [5]. Bei dieser Betriebsart gilt es, eine sensorische, mechanische und oder elektronische Begrenzung von Kraft oder Druck bei der Kollision zwischen Menschen und Roboter sicherzustellen. Anzuwenden ist dabei der Kräfteatlas aus der ISO/TS 15066 [6] sowie die DIN EN ISO 10218-2. Die Grenzwerte werden gemäß Risikobeurteilung und Benutzerinformation festgelegt.

Diese vier grundsätzlichen Schutzprinzipien der MRK sind in den Normen DIN EN ISO 10218 „Industrieroboter –Sicherheitsanforderungen“ Teil 1 [7] und Teil 2 [8] näher erläutert.

Grafik Mensch-Roboter-Kollaboration

Erfolgsfaktoren für Mensch-Roboter-Kollaboration als Technologie in der Produktion

| Eigene Darstellung in Anlehnung an ABB

Die Akzeptanz der Mitarbeiter für MRK lässt sich durch den Aspekt der Ergonomie steigern: Der Roboter kann als Hebehilfe oder Positionierhilfe für Lasten in der Produktion dienen. So müssen zum Beispiel die Mitarbeiter an der Produktionsstraße in der Automobile-Endmontage bei Audi in Ingolstadt keinen krummen Rücken mehr machen. Ein MRK-System reicht ihnen die Bauteile in einer ergonomisch günstigen Position [9].
Der Begriff „Griff in die Kiste“ setzt in der Automationslösung neue Maßstäbe in der Handhabung von Rohteilen, die in eine moderne Fertigung eingeschleust werden müssen. Die dadurch entstehende Prozesssicherheit und Produktivitätssteigerung sind wichtige Faktoren für einen modernen Fertigungsstandort [10].


Die Wirtschaftlichkeit von MRK-Systemen

Trotz hoher Popularität der Mensch-Roboter-Kollaboration im Zusammenhang mit Industrie 4.0 scheuen viele Unternehmen noch den Schritt, sich Wettbewerbsvorteile durch den Einsatz flexibler, sensitiver Assistenzroboter zu verschaffen. Klassische Amortisationsrechnungen [11] stoßen bei MRK-Anwendungen an ihre Grenzen. Eine Beispielrechnung [12] für eine MRK-Montagelinie der TU Wien zeigt die relevanten Kalkulationskriterien. Durch den zusätzlichen Einsatz des Roboters, der zwei Mitarbeiter unterstützt, lässt sich die tägliche Produktionsmenge um 25 Prozent steigern. Über die Lebensdauer der Anlage hinweg, bedeutet dies eine Produktionssteigerung von 50.000 Einheiten. Zwar liegen die Total-Cost-of-Ownership der MRK-Montageanlage um ein Dreifaches höher als für eine klassische, manuelle Montagelinie. Dennoch lassen sich aufgrund der gesteigerten Ausbringmengen in diesem Montageszenario knapp 7,5 Prozent der Prozessstückkosten einsparen – die positiven ergonomischen Auswirkungen nicht miteingerechnet. Durch gezielte Optimierung der Applikation hinsichtlich Wirtschaftlichkeit ist anzunehmen, dass ein höheres Einsparpotenzial erzielt werden kann. Weiterhin lassen sich zunehmend intelligente und mobile Robotersystem flexibel einsetzen, wodurch deren Auslastung steigt und die mit dem System in Verbindung stehenden Kosten auf eine größere Anzahl an Prozessen umgelegt werden können.

Die Arbeit wird sinnvollerweise so aufgeteilt, dass der Roboter monotone und schwere Arbeitsschritte übernimmt, so dass der Mensch sich auf Arbeiten konzentrieren kann, die seine Expertise erfordern, etwa komplexe Fügevorgänge.


Roboter außer Kontrolle

Ein außer Kontrolle geratener Industrieroboter – wie auf der CEBIT 2017 von IT-Spezialisten vorgeführt – ist ein warnendes Beispiel: Denn bei Industrie 4.0 geht es um die zunehmende Vernetzung der einzelnen Systeme und Komponenten. So entstehen auch neue mögliche Gefährdungsszenarien. Theoretisch kann ein Hacker die Kontrolle eines vernetzten Roboters übernehmen und mit der Security-Schnittstelle die Sicherheit außer Kraft setzen. Um solch ein Worst-Case-Szenario zu vermeiden, befasst sich die VDE-Anwendungsregel 2802-10-1 [13] mit dem Zusammenhang zwischen funktionaler Sicherheit und Informationssicherheit am Beispiel der Industrieautomation. Die Grundlagen für die VDE Anwendungsregel bilden unter anderem die DIN EN 61508 (VDE 0803) „Funktionale Sicherheit sicherheitsbezogener elektrischer/elektronischer/programmierbarer elektronischer Systeme“ und die IEC 62443 „Industrielle Kommunikationsnetze – IT-Sicherheit für industrielle Automatisierungssysteme“. Die Anforderungen der IT-Sicherheit an Komponenten industrieller Automatisierungssysteme wird in der DIN EN 62443-4-2 (VDE 0802-4-2) [14] konkretisiert.

 

Fazit

Wenn ein Unternehmen ein MRK-System einführen will, sollte eine Checkliste hinsichtlich der Sicherheitsaspekte am potenziellen MRK-Arbeitsplatz erstellt werden. Aber auch die Mitarbeiter müssen von Anfang an in die Entscheidungs- und Gestaltungsphasen eines kollaborativen Arbeitsplatzes einbezogen werden. Zusätzlich sollten die IT-Sicherheitsmaßnahmen in einem industriellen Automatisierungssystem nicht dazu führen, dass zentrale Dienste und Funktionen oder gar Notfallprozeduren nicht mehr ausgeführt werden können. Bei den IT-Sicherheitszielen stehen die Verfügbarkeit eines Automatisierungssystems, der Schutz und der Betrieb der Produktionsanlagen und das Antwortverhalten zeitkritischer Systeme im Vordergrund. Reine IT-Sicherheitsziele legen oft nicht dasselbe Gewicht auf diese Faktoren; sie haben eher den Schutz von Informationen als den von Betriebsmitteln im Auge. Diese andersartigen Zielsetzungen müssen klar als Schutzziele formuliert werden – unabhängig vom erreichten Integrationsgrad der Anlage.

 

Quellen

[1] Zahlen│Daten│Fakten │Mensch-Roboter-Kollaboration, Institut für angewandte Arbeitswissenschaft.
[2] Sicherheit bei der Mensch-Roboter-Kollaboration, VDMA-Positionspapier, Fassung Mai 2016, VDMA.
[3] Roboter – sichere Helfer des Menschen, Fraunhofer IFF: https://www.iff.fraunhofer.de/de/geschaeftsbereiche/robotersysteme/kapazitive-sensorik.html.
[4] Die Zukunft der Mensch-Roboter-Kollaboration in der industriellen Montage, B. Ding, ifm, 2013.
[5] So schützen Sie Ihre Mitarbeiter vor Robotern, Nördinger, Produktion, 2016.
[6] DIN ISO/TS 15066 DIN SPEC 5306 Roboter und Robotikgeräte – Kollaborierende Roboter (ISO/TS 15066:2016).
[7] DIN EN ISO 10218-1:2011 „Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen – Teil 1: Roboter“ (ISO 10218-1:2011).
[8] DIN EN ISO 10218-2:2011 „Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen – Teil 2: Robotersysteme und Integration“ (ISO 10218-2:2011).
[9] Nie wieder Bücken, Industrieanzeiger: https://industrieanzeiger.industrie.de/themen/robotik/nie-wieder-buecken/.
[10] Griff in die Kiste, Liebherr: https://www.liebherr.com/de/deu/produkte/verzahntechnik-automation/automationssysteme/roboterapplikationen/griff-in-die-kiste/griff-in-die-kiste.html.
[11] BWL für Ingenierure, Prof. Dr. Marion Steven, ISBN 978-3-486-70685-7, Oldenbourg Verlag, 2012.
[12] Sicherheit in der Mensch-Roboter-Kollaboration, White Paper TU Wien, Fassung Mai 2017.
[13] VDE – AR –E 2802-10-1 Zusammenhang zwischen funktionaler Sicherheit und Informationssicherheit am Beispiel der Industrieautomation – Teil 1. Grundlagen.
[14] DIN EN 62442-4-2 (VDE 0802-4-2) „Industrielle Kommunikationsnetze – IT-Sicherheit für industrielle Automatisierungssysteme – Anforderungen an Komponenten industrieller Automatisierungssysteme“ (IEC 65/663/CDV:2017).