Der Standort Ulm der Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie mbH, der späteren AEG-Telefunken AG, mit dem zentralen Forschungslaboratorium des Unternehmens ist eng verknüpft mit der Entwicklung der Farbfernsehtechnik sowie der Mikrowellentechnologie, vor allem für die Satellitentechnik. Das Gebäudeensemble in der Söflinger Straße in Ulm erinnert noch an die Geschichte von Telefunken, die 1995 mit der Übernahme durch den französischen Konkurrenten Thomson CSF endgültig besiegelt war.
Beschreibung
erbaut: 1913-16 / 1953-55 (Umbau und Erweiterung)
Entwurf: Kgl. Militärbauamt II
Im Zuge der 1912 beschlossenen Heeresverstärkung der Bundesstaaten des Deutschen Reichs wurden auch im Königreich Württemberg die Aufrüstungsmaßnahmen verstärkt. Unter anderem wurde für das Königlich Württembergische Artilleriedepot, das die Bestände an Waffen und Munition für alle Truppenteile lagerte und verwaltete, ein Neubau in Ulm beschlossen. Der Gebäudekomplex entstand in mehreren Bauabschnitten in den Jahren von 1913 bis 1916. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Garnisonsstadt Ulm zu großen Teilen demilitarisiert und viele Kasernen und Gebäude der Militärverwaltung standen leer, so auch das Artilleriedepot, das nun in den Besitz der Reichsfinanzverwaltung kam..
Seit Anfang der 1920er wurde der Gebäudekomplex an Gewerbetreibende, kleinere Firmen und Großhandelsunternehmen vermietet. Eine Autowerkstatt, Karosseriebauer, eine Möbelfabrik, eine Mechanische Weberei, eine Bau- und Kunstschlosserei fanden hier ebenso Unterkunft wie Lebensmittel- und Wollgroßhandlungen oder ein Dekorationsgeschäft. Im Zuge der Wiederaufrüstung unter dem NS-Regime wurde das Gebäude 1938 erneut in eine militärische Nutzung überführt und das Heereszeugamt Ulm hier einquartiert. Durch einen Bombenangriff der US-Luftwaffe am 22. Februar 1945 wurde der Ulmer Güterbahnhof und das in der Umgebung gelegene Industriegebiet erheblich zerstört. Auch die Bauten des Heereszeugamtes wurden schwer beschädigt.
Nach notdürftigen Reparaturen wurden die Gebäudeteile an der Söflinger Straße ab 1946, wie nach dem Ersten Weltkrieg, erneut an Gewerbetreibende und Unternehmen vermietet. Unter ihnen war auch die Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie mbH. Im August 1944 hatte das Unternehmen mit dem Heranrücken der Ostfront seine komplette Fertigungslinie samt der 1.500-köpfigen Belegschaft aus dem polnischen Lodz nach Ulm verlegt. In Lodz war die militärisch äußerst wichtige Pentode »RV 12 P 2000«, eine stoßfeste und leicht auswechselbare Elektronenröhre für mobile Funkgeräte (Wellenbereich von 20 m bis 1 m), gebaut worden. Die Produktion dieser Röhre wurde 1946 in der Söflinger Straße mit dem noch vorhandenen Material und den verbliebenen Fachleuten auf 100 Quadratmetern Fläche wieder aufgenommen. Dies war der Grundstein für die Entwicklung des Ulmer Röhrenwerks von Telefunken. Ulm blieb bis 1994 Sitz des Röhrenbereichs von Telefunken. Die Röhren dienten jetzt als Bauteile in den ersten Nachkriegs-Rundfunkempfängern, unter anderem im Baukastenradio »Heinzelmann« von Grundig, das damals ohne Bezugsschein erhältlich war. Nach und nach beseitigte Telefunken die Kriegsschäden an dem Gebäude und baute die durch Bomben zerstörten Teile wieder auf.
Als zu Beginn er 1950er Jahre die Ausstrahlung von Fernsehsendungen aufgenommen wurde, begann Telefunken in Ulm mit der Weiterentwicklung von Schwarz-Weiß-Bildröhren, mit deren Herstellung das Unternehmen seit 1935 bereits im Geschäft war. Um genügenden Platz für die neue Fertigung zur Verfügung zu haben, erwarb Telefunken 1953 das gesamt Grundstück Söflinger Straße 96-100 mit einer Fläche von 23.000 qm. Die Gebäudeflügel wurden aufgestockt und im Innenhof eine neue Produktionshalle von 3.200 qm Grundfläche errichtet. Nachdem die Baumaßnahmen Ende 1955 abgeschlossen waren, stieg die Zahl der jährlich produzierten Bildröhren von anfangs 50.000 auf über eine Million bis zur Einstellung der Produktion 1977. Als 1966 das Farbfernsehen aufkam, entscheid sich Telefunken für den Bau eines Farbbildröhrenwerks, allerdings nicht an der Söflinger Straße, sondern in einer neuen Produktionsstätte im Ulmer Stadtteil Donautal.
Mit der Fusion zur AEG-Telefunken AG war 1967 die eigenständige Existenz von Telefunken besiegelt. Der zunehmende Konkurrenzdruck aus Fernost und Kapitalmangel führten 1979 zum Verkauf der Fernsehbildröhrenfertigung an Thomson-Brandt. Eine Rettung für den Ulmer Produktionsbetrieb war das nicht, und als die Bildröhrenfertigung Ende 1981 in Liquidation gehen musste, hatte das auch Auswirkungen auf die mit der Röhrenfertigung zusammenhängenden Dienstleistungsbereiche und Vorbetriebe von AEG-Telefunken. Die Mitarbeiterzahl an der Söflinger Straße sank 1982 von rund 4.100 auf nur noch 600. Dabei hatte die Umstrukturierung auf neue Produktionsbereiche hier bereits Ende der 1960er Jahre begonnen.
Mit dem Verlassen der Großserienproduktionen sah man die Zukunft in dem High-Tech-Produkt der »Technischen Röhren«. Unter diesem Begriff wurden alle Produkte zusammengefasst, die die Technologien der Vakuumhüllen, der Elektronenemission sowie der Elektronenstrahl-Formung, -Führung und -Steuerung für nichtkommerzielle Anwendungen verwendeten. Es handelte sich dabei um, in kleineren oder mittleren Stückzahlen hergestellte, ausgesprochen hochwertige Schlüsselbauelemente für „Nischenmärkte”, wie Senderöhren, Oszilloskopröhren, Röntgenröhren, Radarsichtröhren, Infrarotbildwandler oder Mikrowellenröhren, die bereits vor und während des Zweiten Weltkriegs bei der AEG und bei Telefunken entwickelt und hergestellt worden waren. Seit den 1960er Jahren erhielt das Ulmer Werk für diesen Bereich Aufträge aus dem Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) und dem Bundesministerium für Verteidigung. Insbesondere wurden Wanderfeldröhren (Verstärkerröhren für den Mikrowellenbereich) für die seit den 1950er Jahren boomende Richtfunktechnik entwickelt und gefertigt. Den Ausgangspunkt bildete die 1956 fertigungsreife Röhre »TL 6« mit einer Ausgangsleistung von 6 W für den Frequenzbereich von 3,7 bis 4,2 GHz.
Das Know-how in der Mikrowellenröhren-Technologie war die Grundlage dafür, dass Telefunken auf Anregung des BMFT Mitte der 1960er Jahre in die Entwicklung von Senderöhren für Satelliten einstieg. Das ehrgeizige Entwicklungsprojekt einer weltraumtauglichen Wanderfeldröhre mit 10 W Ausgangsleistung für den Frequenzbereich 3,6 bis 4,4 GHz (»C-Band«) konnte termingerecht abgeschlossen werden, so dass die beiden 1974 beziehungsweise 1975 in den Weltraum gestarteten deutsch-französischen Experimentalsatelliten »Symphonie 1« und »Symphonie 2« mit jeweils vier (je zwei davon in Reserve) Wanderfeldröhren von AEG-Telefunken ausgestattet waren. In den knapp 10-jährigen Betriebszeiten der Satelliten funktionierten die Röhren einwandfrei, ohne dass die Ersatzröhren aktiviert werden mussten.
Mit dem Start des experimentellen Nachrichtensatelliten »OTS1« mit 20-W/11-GHz-Wanderfeldröhren begann eine neue Ära. Die Satelliten-Wanderfeldröhren wurden zu kommerziellen Produkten. Eine Fertigung für die in Ulm entwickelten Röhren konnte nach einer wegen des extremen Zeitdrucks schwierigen Anlaufphase erfolgreich in Gang gebracht werden. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden insgesamt 167 Satellitensysteme mit Wanderfeldröhren von AEG-Telefunken ausgestattet. Inzwischen, 1995, war das Ulmer Röhrenwerk von dem französischen Konkurrenten Thomson CSF erworben worden, der seit 2000 als Thales S.A. firmiert und heute mit einer Abteilung immer noch in der Söflinger Straße ansässig ist. 2012 erhielt der Gebäudekomplex den Namen »altes röhrenwerk«.
Informationsstand: 10.02.2018
Schlagworte: Elektroindustrie; Geschichte der Elektro- und Informationstechnik; Informations- und Kommunikationstechnik (IKT); Nachrichten- und Kommunikationstechnik
Stichworte: Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie mbH; Kgl. Militärbauamt II; Heeresverstärkung; Königreich Württemberg; Artilleriedepot; Ulm; Erster Weltkrieg; Garnisonsstadt; Heereszeugamt Ulm; Söflinger Straße; Lodz; Pentode; RV 12 P 2000; Funkgerät; Röhrenwerk; Telefunken; Rundfunkempfänger; Baukastenradio; Heinzelmann; Fernsehsendung; Grundig Radio-Werke GmbH; Schwarz-Weiß-Bildröhre; Farbfernsehen; Farbbildröhrenwerk; Donautal; AEG-Telefunken AG; Thomson-Brandt; Technische Röhre; Vakuumhülle; Elektronenemission; Elektronenstrahlformung; Elektronenstrahlführung; Elektronenstrahlsteuerung; Schlüsselbauelement; Senderöhre; Oszilloskopröhre; Röntgenröhre; Radarsichtröhre; Infrarotbildwandler; Mikrowellenröhre; Zweiter Weltkrieg; Bundesministerium für Forschung und Technologie; BMFT; Bundesministerium für Verteidigung; Wanderfeldröhre; Richtfunktechnik; TL 6; Senderöhre für Satelliten; Symphonie 1; Symphonie 2; OTS1; Nachrichtensatellit; Thomson-CSF; Thales S.A; altes röhrenwerk
Quelle(n)
- Jork Bretting, Die Telefunken-Röhre; in: Erdmann Thiele, Telefunken nach 100 Jahren. Das Erbe einer deutschen Weltmarke, Berlin 2003, S. 130-149
- Infotafeln am Objekt