Dr. Cassirer & Co. AG (Werk Hakenfelde)_02
2012 Norbert Gilson
05.12.2022

Dr. Cassirer & Co. AG (Werk Hakenfelde)

Hugo-Cassirer-Straße 44, 13587 Berlin-Hakenfelde

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VDE Ausschuss Geschichte der Elektrotechnik
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Die Berliner Dr. Cassirer & Co. AG, die sich vor dem Ersten Weltkrieg zu einem der weltweit führenden Kabelproduzenten entwickelte, ist zugleich ein mahnendes Beispiel für die Enteignung jüdischen Besitzes unter der NS-Diktatur.

Beschreibung

erbaut: 1929-30
Architekt: Hans Poelzig

Die Brüder Louis und Julius Cassirer, die in den 1890er Jahren in Berlin im Grundstückshandel und Wohnungsbau tätig waren, gründeten 1896 die Dr. Cassirer & Co. AG zur Produktion von Kabeln und Gummifäden. Nachdem die Produktion in einem Hintergebäude an der Schönhauser Allee aufgenommen worden war, erfolgte zwei Jahre später die Verlegung in ein neu errichtetes Fabrikgebäude in der Charlottenburger Keplerstraße. Die Fabrikanlage bestand aus einer Kabelfabrik, einem Gummiwerk und einem Verwaltungsgebäude. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Unternehmen zu einem der weltweit führenden Kabelproduzenten. 1914 waren 630 Mitarbeiter beschäftigt.

Die beengte Grundstückssituation in Charlottenburg ließ eine Erweiterung des Unternehmens dort nicht zu. Als Mitte der 1920er Jahre die Produktion von Bleikabeln ins Auge gefasst wurde, musste zur Realisierung dieses Vorhabens ein neuer Standort gefunden werden. Die Wahl fiel auf das Industriegelände in Hakenfelde, damals nördlich von Spandau gelegen und heute Teil des Berliner Bezirks Spandau. Die dichtende Wirkung des Bleis für elektrische Kabel war bereits um 1880 entdeckt worden: seitdem wurde die mit Textilfasern oder Papier umwickelte Kupferseele anschließend imprägniert und schließlich mit einem Bleimantel umpresst.

Die neue Bleikabelfabrik entstand auf einem Grundstück am rechten Havelufer, das im Norden von der Rauchstraße und im Westen von der damaligen Klinkestraße begrenzt wurde. Vorteilhaft war nicht nur eine Schiffsanlegestelle am Havelufer, sondern auch über ein Anschlussgleis die Verbindung zur  Spandau-Bötzower Kleinbahn. Da das Grundstück nur 80 cm über dem Grundwasserspiegel lag, wurde es durch eine rund 1 m hohe Aufschüttung mit Sand entsprechend erhöht. Der Sand stammte aus den Baustellen der Untergrundbahn am Alexanderplatz.
Die zentralen Produktionsbauten der auch als »Havelwerk« bezeichneten Fabrikanlage waren Hallenbauten, die insgesamt eine Grundfläche von 6.750 qm einnahmen. Direkt an die Hallen schloss sich ein zweigeschossiger Sozial- und Verwaltungstrakt an (Fotos 1 und 7). Lagerräume von 2.300 qm Grundfläche waren für die Aufnahme der Rohmaterialien - Kupfer, Blei, Papier, Harz, Öl, Jute, Eisendraht - vorgesehen. Als Nebengebäude und Nebenanlagen entstanden ein Kesselhaus mit Kamin, Garagen, ein Pförtnerhaus, ein Gleisanschluss an die Industriebahn mit Abstellgleisen, eine Anlegestelle an der Havel, Kranbahnen und eine Wiegeeinrichtung.

Die insgesamt acht nebeneinander angeordneten und miteinander verbundenen Hallenschiffe wurden als reine Stahlskelettbauten ausgeführt, wobei auch in der westlichen und östlichen massiven Abschlusswand eiserne Stützen angeordnet wurden. Nach dem Entwurf von Hans Poelzig wurden die Außenwände durch Pfeilervorlagen verstärkt, die gleichzeitig eine rhythmische Gliederung bilden und sich unter dem Hauptgesims rahmenartig schließen. Die Vorlagen erhielten eine Verblendung aus schwarzen Ilse-Klinkern, während für die Füllungen rote, gelbe und braune Klinker Verwendung fanden.
Die von Hans Poelzig entworfene Werkshalle mit Lager- und Verwaltungstrakt, das Pförtnerhaus und die Einfriedungsmauern sind erhalten geblieben. Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten übernahm ein Bankenkonsortium die Aktienmehrheit. Der Kauf durch Siemens besiegelte schließlich das Schicksal der jüdischen Familie Cassirer, die damit aus der Beteiligung an ihrem Unternehmen ausschied. Bis Oktober 1941 produzierte die Firma noch unter ihrem alten Namen und wurde dann in Märkische Kabelwerke AG umbenannt.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Werksanlagen nur unwesentlich in Mitleidenschaft gezogen. Nach der Rettung einzelner Teile der Produktionsanlagen vor der Demontage konnte 1946 die Produktion wieder anlaufen. Nach der 1967 erfolgten Fusion der Märkischen Kabelwerke AG mit dem Kabelwerk Vohwinkel zur neuen Bergmann Kabelwerke AG lief der Betrieb noch bis 1993 weiter.
Nach der Stilllegung ging das Gelände an eine Entwicklungsgesellschaft über, die das Gebiet zwischen Havel, Rauchstraße und Streitstraße im Rahmen des städtebaulichen Entwicklungsprojekts »Wasserstadt Oberhavel« zu einem Wohn- und Geschäftsquartier umgestaltete. Die von Hans Poelzigs entworfene Halle wurde 2000/01 denkmalgerecht saniert. Heute nutzt die Stiftung Stadtmuseum Berlin den Standort für Büros und Werkstätten. Reste der Umgrenzungsmauer und das Pförtnergebäude, in dem sich ein kleines Café befindet, wurden in einen neu angelegten Park integriert.
 
Informationsstand: 22.07.2015
Schlagworte: Elektroindustrie; Geschichte der Elektro- und Informationstechnik; Werkstoffe; Leiterwerkstoffe, Supraleitung
Stichworte: Hans Poelzig; Louis Cassirer; Julius Cassirer; Dr. Cassirer & Co. AG; Kabel; Gummifäden; Kabelfabrik; Gummiwerk; Bleikabel; Hakenfelde; Spandau-Bötzower Kleinbahn; Havelwerk; Märkische Kabelwerke AG; Arisierung; Siemens; Kabelwerk Vohwinkel GmbH; Bergmann Kabelwerke AG

Quelle(n)

  • Erich Zimmermann, Neubau des Bleikabelwerkes der Dr. Cassirer & Co. A.-G., Berlin, in: Der Industriebau 21(1930), Heft 11/12
  • Thorsten Dame, Elektropolis Berlin. Architektur- und Denkmalführer, Berlin 2014
  • Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Denkmaldatenbank, Eintrag 09085738

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