01.07.2012 Fachinformation

Interview zum Thema „Mit dem Ausbau des Übertragungsnetzes kann die Energiewende gelingen“

mit Rainer Joswig, TransnetBW GmbH, Geschäftsführer

Dipl.-Ing. Rainer Joswig, EnBW Transportnetze AG, Stuttgart

Redaktion:
Wo immer derzeit von der Energiewende die Rede ist, stehen auch die Übertragungsnetze unmittelbar im Fokus. Welche Auswirkungen hat die Energiewende auf das Übertragungsnetz?

Joswig:
Bereits in den vorangegangenen Jahren hat sich - begünstigt durch den national- und europapolitischen Rahmen - der Anteil erneuerbarer Energien an der Gesamtstromerzeugung kontinuierlich erhöht. In Deutschland hat diese Entwicklung durch die von der Bundesregierung eingeleitete Energiewende noch einmal deutlich an Fahrt gewonnen. Die Übertragungsnetzbetreiber stehen inzwischen vor enormen Herausforderungen bei ihrer Aufgabe, Versorgungssicherheit und Netzstabilität aufrecht zu erhalten. Ein wesentlicher Punkt ist hierbei der schnell wachsende Anteil an unregelmäßig eingespeister Energie. Es wird bald Tage geben, an denen die Erzeugung aus erneuerbaren Energien in Deutschland höher ist als die Nachfrage nach Strom. Ein weiterer Aspekt ist die große räumliche Entfernung zwischen Erzeugung und Verbrauch: Lag die mittlere Entfernung in der Vergangenheit bei ca. 80 km, so variiert sie inzwischen von nahezu 0 km bei dezentraler Erzeugung („Fotovoltaik auf dem Dach“) bis hin zu über 800 km bei großräumigem Transport von Windstrom von Nord- nach Süddeutschland. Hieraus ergeben sich stark steigende Anforderungen an die Flexibilität der Verteilungs- und Transportnetze insbesondere im Hinblick auf die Übertragungskapazität und die für die Spannungshaltung erforderliche Blindleistungsbereitstellung.

Mit der Abschaltung von acht Kernkraftwerksblöcken im März 2011 verringerte sich außerdem die installierte Erzeugungsleistung deutschlandweit um rund 8400 MW. Derzeit verfügen wir in Deutschland nicht mehr über genügend gesicherte Erzeugungsleistung, um in Zeiten ohne Erzeugung aus erneuerbaren Energien den Strombedarf jederzeit abzudecken. Vor allem im Süden Deutschlands, wo sechs der acht betroffenen Kraftwerke ihren Standort haben, haben wir dies in der Kältewelle des vergangenen Winters zu spüren bekommen. Die Netzsituation war teilweise sehr angespannt – zur Sicherstellung der Stromversorgung mussten die Übertragungsnetzbetreiber die vertraglich gesicherten Reservekraftwerke einsetzen und weitere noch freie Erzeugungsleistung aus dem Ausland beschaffen.

Mit Blick auf die steigende Zahl der zur Aufrechterhaltung der Systemsicherheit erforderlichen Eingriffe ist festzustellen, dass die Übertragungsnetzbetreiber immer mehr die Rolle eines „Dirigenten“ übernehmen.

Redaktion:
Am 30. Mai haben die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber den Netzentwicklungsplan 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt und den Konsultationsprozess gestartet. Welche Bedeutung hat der Netzentwicklungsplan für die Energiewende?

Joswig:
Der Netzausbau ist eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Energiewende. Nur wenn er mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien Schritt hält, können wir die darin gesetzten Ziele bei gleichbleibender Versorgungssicherheit und Netzstabilität erreichen. Und wir sehen ja: Der Ausbau von Erneuerbaren schreitet außerordentlich schnell voran. Wir beobachten eine deutliche Zunahme von Netzengpässen in den Übertragungsnetzen, und das bereits angesprochene hohe Gefälle zwischen der Erzeugung im Norden und der Nachfrage im Süden verstärkt sich. Unsere „Standardwerkzeuge“, z.B. der Eingriff in den deutschlandweiten Kraftwerkspark (Redispatch), werden früher oder später an ihre Grenzen kommen. Wir brauchen eine Netzinfrastruktur, die die erneuerbaren Energien bei gleichbleibender Versorgungssicherheit und stabilem Netzbetrieb integriert und die gleichzeitig die Entwicklung eines europäischen Strommarkts weiter unterstützt. Der Netzentwicklungsplan bildet die Grundlage für eine solide Planung dieses Netzes. Denn Stand heute sind die Erneuerbaren zwar an das Stromnetz angeschlossen, vollständig integriert sind sie deswegen aber noch nicht. Und genau darin liegt eine unserer größten Aufgaben.

Redaktion:
Was beinhaltet der Netzentwicklungsplan?

Joswig:
Im Entwurf des Netzentwicklungsplans, kurz NEP genannt, haben wir für das Jahr 2022 in drei unterschiedlichen Energieszenarien, welche von der Bundesnetzagentur öffentlich konsultiert und Anfang 2012 genehmigt wurden, die notwendigen Netzoptimierungs-, -verstärkungs- und -ausbaumaßnahmen ermittelt. Der NEP zeigt den Übertragungsbedarf zwischen Anfangs- und Endpunkten, also Regionen mit (temporärem) Erzeugungsüberschuss und Regionen mit Verbrauchsüberschuss auf. Er enthält für neue Trassen keine konkreten Trassenverläufe. Diese werden erst auf Grundlage des genehmigten NEP im Bundesbedarfsplan, der Bundesfachplanung bzw. im Rahmen von Raumordnungsverfahren festgelegt.

Redaktion:
Wieviel Trassen-Zubau steckt im Netzentwicklungsplan?

Joswig:
Bei der Netzplanung gilt das so genannte NOVA-Prinzip, d.h. Netzoptimierung geht vor Netzverstärkung, und erst dann erfolgt der Netzausbau. Der vorgelegte Entwurf des Netzentwicklungsplans strebt nach Netzoptimierungsmaßnahmen daher den Ausbau soweit als möglich in den bestehenden Trassen an. Für die besonders leistungsstarken Verbindungen von Nord nach Süd schlägt der NEP zusätzliche Gleichstromverbindungen vor. Sie eignen sich besonders für die optimale Übertragung großer Strommengen über lange Entfernungen. Im so genannten Leitszenario B2022 ergeben sich aus den Berechnungen der Übertragungsnetzbetreiber Netzverstärkungen und Ersatzneubaumaßnahmen in bestehenden Trassen auf einer Länge von 4400 Kilometern. Hinzu kommen 1700 Kilometer neue Drehstrom-Leitungstrassen und 2100 Kilometer Korridore für die vier Hochspannungsgleichstromverbindungen. Dieser Netzausbau bietet übrigens auch für junge Ingenieurinnen und Ingenieure neue reizvolle Aufgaben, insbesondere auch der Einsatz der für Deutschland und Europa neuen Art der Gleichstromtechnik.

Redaktion:
Welche Kosten kommen mit dem Netzausbau auf uns zu?

Joswig:
Im Rahmen des NEP haben wir Gesamtkosten für den Netzausbau in den nächsten zehn Jahren von etwa 20 Milliarden Euro bis 2022 ermittelt. In der Tat eine große Investition, die jedoch nur einen Bruchteil der Kosten für die Energiewende ausmacht, und die gleichzeitig ein wesentlicher Erfolgsfaktor für deren Umsetzung ist. Mit dieser Investition wird eine Netzinfrastruktur aufgebaut, die uns für Jahrzehnte sicher mit Strom versorgen kann. Im Übrigen würde auch ein Verzicht auf den Netzausbau andere nicht minder hohe Kosten verursachen etwa durch Market-Splitting, zunehmende regionale Abschaltungen von regenerativen Energieerzeugern und -verbrauchern sowie durch zunehmende kostenintensive Eingriffe zur Stabilisierung der Netze (Redispatch). Auch diese Kosten trägt am Ende der Kunde.

Redaktion:
Wie alle großen Infrastrukturprojekte stößt auch der Netzausbau in vielen Fällen auf Widerstand aus der Bevölkerung. Wie wollen Sie die Bürger vor Ort überzeugen?

Joswig:
Uns allen ist klar, dass der Netzausbau nur mit dem Einverständnis der Menschen hier in Deutschland gelingen kann. Ein großes Anliegen ist es für uns daher, mögliche Beeinträchtigungen durch den Netzausbau so gering wie möglich zu halten. Wo immer die Möglichkeit besteht, wird die Netzentwicklung durch Optimierung in den Bestandstrassen durchgeführt werden. Mit dieser Zielsetzung prüfen wir auch den Einsatz neuer Technologien. So hat die TransnetBW gemeinsam mit Amprion eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, die den gleichzeitigen Einsatz von Gleichstromleitungen auf bestehenden Wechselstrom-Leitungstrassen erforscht.
Nicht zuletzt erfolgt der gesamte Prozess der Netzentwicklungsplanung transparent und unter der Beteiligung aller interessierten Bürger. Auch der jetzt vorgelegte Entwurf des Netzentwicklungsplans wird von den Übertragungsnetzbetreibern vom 30. Mai bis 10. Juli 2012 öffentlich konsultiert (www.netzentwicklungsplan.de). Gleichzeitig finden Informationsveranstaltungen mit den verschiedenen Stakeholdern statt, deren Ergebnisse wieder in den Entwicklungsplan einfließen. Wir hoffen auf eine rege Beteiligung und auf ein Ergebnis, das vom gesellschaftlichen Konsens getragen wird.