Eine grundlegende Forderung der Verordnung (EU) 2017/745 (Medical Device Regulation) MDR ist es, dass etwaige Risiken eines Medizinproduktes in Bezug auf den Nutzen vertretbar sein müssen. Dies gilt auch für die eingesetzten Werkstoffe und Stoffe zur Produktion eines Medizinproduktes. In diesem Beitrag erläutern wie die Anforderungen des europäischen Gesetzgebers an die Material Compliance bei Medizinprodukten. Der Fokus des Beitrags liegt auf der MDR, aber auch weitere einschlägige EU-Gesetzgebungen werden diskutiert.
Material Compliance bei Medizinprodukten bezeichnet die Übereinstimmung mit den regulatorischen Anforderungen hinsichtlich der Verwendung, Auswirkungen, Verträglichkeit, Kompatibilität, Eigenschaften und Entsorgung von Werkstoffen und Stoffen über den gesamten Lebenszyklus. Das Ziel ist eine sichere Anwendung bei bestimmungsgemäßer Verwendung.
EU-Gesetzgebung
MDR-Anforderungen
Beim Inverkehrbringen oder der Inbetriebnahme eines Produktes muss der Hersteller sicherstellen, dass dieses gemäß den Anforderungen der MDR ausgelegt und hergestellt wurde (Art. 10 (1) MDR). Diesbezüglich sind die für das jeweilige Produkt einschlägigen Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (GRUSULA) zu identifizieren und zu erfüllen. Der Abschnitt „10. Chemische, physikalische und biologische Eigenschaften“ beschreibt die Anforderungen für die eingesetzten Werkstoffe und Stoffe und gliedert sich wie folgt:
- 10.1. Allgemeine Anforderungen
- 10.2. Risiken durch Schadstoffe und Rückstände
- 10.3. Kompatibilität mit Werkstoffen und Stoffen
- 10.4. Risiken durch Stoffe in Medizinprodukten oder Stoffe, die freigesetzt werden
- 10.5. Risiken durch das Eindringen von Stoffen in das Medizinprodukt
- 10.6. Risiken durch das Eindringen von Partikeln in die Haut
Die Anforderungen der MDR sind ausführlicher als in den vormals gültigen EU-Richtlinien über Medizinprodukte und Implantate, aber hinsichtlich des Inhalts oftmals ähnlich.
Der Abschnitt „10.1. Allgemeine Anforderungen“ beschreibt die Spezifikationen der Materialanforderungen mit Fokus auf die:
- Auswahl der eingesetzten Werkstoffe und Stoffe insbesondere hinsichtlich Toxizität und Entzündungsförderung,
- wechselseitige Verträglichkeit zwischen den eingesetzten Werkstoffen und Stoffen und den biologischen Geweben, Zellen und Körperflüssigkeiten,
- Kompatibilität der verschiedenen Teile eines Produkts, das aus mehr als einem implantierbaren Teil besteht,
- Auswirkungen der Prozesse auf die Eigenschaften der Werkstoffe,
- Ergebnisse von Untersuchungen an biophysikalischen oder anderen Modellen
- mechanischen Eigenschaften der eingesetzten Werkstoffe sowie
- Oberflächenbeschaffenheit.
Der Hersteller muss bestätigen, dass das Produkt alle festgelegten chemischen und/oder physikalischen Spezifikationen erfüllt (-> Konformitätsnachweis). Wichtige Dokumente zum Nachweis der Konformität sind die Entwicklungsdokumentation (inkl. der Anforderungsspezifikationen), die Testberichte, der Risikomanagementbericht (mit Verweis auf die Risikoanalyse) und der klinischer Bewertungsbericht. Die Auswirkungen der Prozesse des Qualitätsmanagementsystems auf die Eigenschaften der Werkstoffe wird im Rahmen der Prozessvalidierung (Abschnitt 7.5.6 ISO 13485) untersucht. Grundsätzlich sind die entsprechenden Konformitätsnachweise Bestandteil der vorklinischen und klinischen Daten in der technischen Dokumentation gemäß Abschnitt 6.1 b) Anhang II MDR.
Der Abschnitt „10.2. Risiken durch Schadstoffe und Rückstände“ fordert die Identifizierung und Behandlung von Risiken bei der Produktauslegung (-> Materialcharakterisierung), der Produktherstellung (-> Kontaminationen im Herstellungsprozess) und der Produktverpackung (-> Schutz des Produktes und Anwenders) im Rahmen des Risikomanagements des Herstellers (gemäß ISO 14971).
Die Art und Dauer des Kontakts zwischen Medizinprodukt und Materialien sowie Arzneimitteln (wenn zutreffend) hat einen wesentlichen Einfluss auf das Risikoprofil und wird im Abschnitt „10.3. Kompatibilität mit Werkstoffen und Stoffen“ behandelt. Sind Arzneimittel Bestandteile des Medizinproduktes, ist die einschlägige EU-Gesetzgebung zu beachten.
In Bezug auf krebserzeugende, erbgutverändernde oder fortpflanzungsgefährdende Stoffe (Cancerogen Mutagen Reprotoxic - CMR) und Stoffe mit endokrin wirkenden Eigenschaften legt der Abschnitt „10.4. Risiken durch Stoffe in Medizinprodukten oder Stoffe, die freigesetzt werden“ fest, dass diese grundsätzlich nur bis 0,1 % Massenanteil (w/w) enthalten sein dürfen. Höhere Massenanteile sind nur mit einer ausführlichen Begründung zulässig. Bezüglich dieser Stoffe sind besondere Anforderungen an die Verpackungs-Kennzeichnung sowie die Gebrauchsanweisung zu beachten. Bislang sind nur wenige Guidelines zur Material Compliance unter der MDR erschienen. Eine Ausnahme bildet die “SCHEER Guideline on the benefit-risk assessment of the presence of CMR/ED phthalates in certain medical devices covering phthalates which are carcinogenic, mutagenic, toxic to reproduction (CMR) or have endocrine-disrupting (ED) properties” von 2019.
Die Anforderungen im Abschnitt „10.5 Risiken durch das Eindringen von Stoffen in das Medizinprodukt“ werden ebenfalls im Rahmen des Risikomanagements behandelt.
Nanomaterialen sind in Art. 2 (18) MDR wie folgt definiert: „Ein natürliches, bei Prozessen anfallendes oder hergestelltes Material, das Partikel in ungebundenem Zustand, als Aggregat oder als Agglomerat enthält und bei dem mindestens 50 % der Partikel in der Anzahlgrößenverteilung ein oder mehrere Außenmaße im Bereich von 1 nm bis 100 nm haben. Fullerene, Graphenflocken und einwandige Kohlenstoff-Nanoröhren mit einem oder mehreren Außenmaßen unter 1 nm gelten ebenfalls als Nanomaterialien“.
In Medizinprodukten erfahren Nanomaterialien eine besondere Aufmerksamkeit seitens des EU-Gesetzgebers. Dies drückt sich einerseits in der „SCENIHR Guidance on the determination of potential health effects of nanomaterials used in medical devices” von 2015 und andererseits in der speziellen Regel 19 zur Risikoklassifizierung von Produkten mit Nanomaterialien aus (Anhang VIII MDR) aus.
Der Abschnitt „10.6 Risiken durch das Eindringen von Partikeln in die Haut“ beschäftigt sich explizit mit Nanomaterialien. Zur Vermeidung der Risiken in Bezug auf Größe und Eigenschaften von Partikeln dient die ISO/TR 10993-22.
Anforderungen aus weiterer EU-Gesetzgebung
Die Verordnung (EG) 1907/2006 (REACH) regelt europaweit die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Die Verordnung (EG) 1272/2008 (CLP) setzt Regelungen des Globally Harmonised System of Classification and Labelling of Chemicals (GHS) der UN in der EU um.
Hersteller sind zu Informationen über Erzeugnisse verpflichtet, welche einen Stoff der sog. „Kandidatenliste“ der European Chemical Agency (ECHA) mit einem Massenanteil > 0,1% enthalten (Art. 33 REACH). Diese Informationen müssen auch in die Risikoanalyse Eingang finden.
Für bestimmte Medizinprodukte sind keine Sicherheitsdatenblätter erforderlich (Art. 2 (6c) REACH).
Eine Registrierung der Verwendungen von Stoffen durch den Medizinproduktehersteller gemäß REACH ist nur dann erforderlich, wenn diese nicht bereits durch den Lieferanten erfolgt ist.
Mehr Informationen zu REACH sind beim Helpdesk der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin verfügbar.
Die Richtlinie 2011/65/EU (RoHS 2) zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten gilt gemäß Anhang I auch für „medizinische Geräte“. Umgesetzt wurde die Richtlinie in Deutschland als Elektro- und Elektronikgeräte-Stoff-Verordnung (ElektroStoffV). RoHS 2 gilt nach jetzigem Stand nicht für aktive implantierbare Medizingeräte (Art. 2 (4h) RoHS 2). Grundsätzlich dürfen Elektro- und Elektronikgeräte keine der in Anhang II (zuletzt geändert durch die delegierte Richtlinie (EU) 2015/863 („RoHS 3“)) aufgeführten Stoffe jenseits der genannten Konzentrationen enthalten (Art. 4 (1) RoHS 2). Von dieser Beschränkung ausgenommen sind medizinische Geräte und Überwachungs- und Kontrollinstrumente aus Anhang IV RoHS 2. Hersteller müssen eine technische Dokumentation mit den entsprechenden Konformitätsnachweisen erstellen und ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen (Art. 7 b-c RoHS 2).
Je nach Art der verwendeten Materialien können auch folgende EU-Verordnungen und -Richtlinien bei der Herstellung, Verpackung und Entsorgung der Medizinprodukte einschlägig sein:
- Richtlinie 94/62/EG über Verpackungen und Verpackungsabfälle
- Verordnung (EU) 528/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten
- Richtlinie 2006/66/EG über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren
- Verordnung (EU) 2017/821 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten
- Verordnung (EU) 2019/1021 (POP) über persistente organische Schadstoffe
- Verordnung (EU) 2017/852 über Quecksilber
- Richtlinie 2012/19/EU über Elektro- und Elektronik-Altgeräte
Aufgrund der ständigen Aktualisierung der EU-Gesetzgebung sollten die jeweils konsolidierten Fassungen der Rechtstexte berücksichtigt werden!
Normen
Normenreihe EN ISO 10993 - Biologische Beurteilung von Medizinprodukten
Die nachfolgenden Teile der Normenreihe ISO 10993 sind in Bezug auf die Material Compliance anwendbar (Stand: Juli 2022):